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Die Klinik für XXL-Patienten

Die Einrichtung im Pulsnitzer Schloss ist auf Schwergewichte eingestellt. Das ist nicht in allen Reha-Einrichtungen so.

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Von Reiner Hanke

Das Glück steht René Rackebrandt ins Gesicht geschrieben. Er deutet mit einer ausladenden Bewegung zu den Knien an, wo sich sein Bauch noch vor wenigen Wochen befand. Der 45-Jährige sitzt in einem speziell verstärkten Rollstuhl für Schwergewichte in seinem Krankenzimmer in der Pulsnitzer Helios Schlossklinik. Seine Knie kann er wieder sehen, und er zeigt, wie er sogar die Füße mit den Händen erreichen kann. Dinge, die vor Kurzem undenkbar waren. 185 Kilogramm brachte der Staplerfahrer bei der Geflügel-Firma Wiesenhof in Sachsen-Anhalt auf die Waage, als er plötzlich Lähmungserscheinungen im linken Bein bemerkte. Dann rechts. In Panik alarmierte er den Rettungsdienst. In einer Magdeburger Klinik entfernten ihm die Ärzte einen fast tischtennisballgroßen Abszess im Bereich der Wirbelsäule. „Danach war aber alles noch taub“, berichtet Rackebrandt und eine Odyssee begann.

René Rackebrandt kam mit einem Gewicht von 185 Kilogramm nach Pulsnitz in die Schlossklinik. Nun trainiert er unter anderem auf dem Fahrrad-Ergometer, um abzunehmen. Begleitet wird er dabei vom Sporttherapeuten Pedro Liebsch. Foto: René Plaul
René Rackebrandt kam mit einem Gewicht von 185 Kilogramm nach Pulsnitz in die Schlossklinik. Nun trainiert er unter anderem auf dem Fahrrad-Ergometer, um abzunehmen. Begleitet wird er dabei vom Sporttherapeuten Pedro Liebsch. Foto: René Plaul

Jeder vierte Deutsche ist zu dick

Es ging um einen Klinikplatz für die Rehabilitation, um wieder ins Leben zurückzufinden. Da hagelte es nur so Absagen. Das Problem: Auf XXL-Patienten sind wohl die wenigsten Kliniken eingestellt. René Rackebrandt war verzweifelt: „Sucht doch in einem größeren Umkreis, habe ich gesagt.“ Ihm drohte die Abschiebung in ein Pflegeheim. Aber er kam vor vier Wochen nach Pulsnitz – damals bewegungsunfähig.

Neurologische und neurochirurgische Rehabilitation ist das Fachgebiet der Pulsnitzer Klinik. Und das betrifft auch immer mehr Patienten, die unter Adipositas leiden, wie der Fachbegriff lautet. Der Volksmund nennt es auch Fettleibigkeit. Darauf hat sich die Klinik eingestellt. Schwester Karina Ellermann, Casemanagerin der Klinik, hat die Abteilung mit aufgebaut und ist sich sicher: Im Osten Deutschlands ist Pulsnitz wohl die einzige Klinik mit diesem Angebot. Auch in den alten Bundesländern gebe es nur wenige. Die steigende Nachfrage habe die Klinik zur Investition in den XXL-Bereich angeregt. Und die jüngste Studie der Krankenkasse DAK gibt den Pulsnitzern recht. Danach ist jeder vierte deutsche Erwachsene zwischen 18 und 79 Jahren zu dick. Der Anteil der Patienten mit extremer Ausprägung habe sich zwischen 1999 und 2013 mehr als verdoppelt. Es sei auch ein gesellschaftliches Problem, schätzt Pflegedirektorin Annette Nagel ein. In Zeiten von Fast Food fehle es an ausgewogener Ernährung. Dazu komme Bewegungsmangel. Manchmal ist es auch eine Erziehungsfrage, manchmal durch organische Fehlfunktionen bedingt. Viel hänge auch vom Verhalten der Gesellschaft ab. Nach einer Analyse der Krankenkasse DAK-Gesundheit werden fettleibige Menschen in Deutschland häufig stigmatisiert und ausgegrenzt.

René Rackebrandt kennt das seit der Kindheit. Ein Stück Kuchen kann dann trösten. Daraus werden zwei, drei, vier. Er sei schon immer kräftiger gewesen. Es lag wohl in der Familie. Dann habe er Fleischer gelernt, sagt er und schaut ein bisschen entschuldigend. Freilich esse er gern, gibt er zu, eben leider auch zu viel. Und wenn das Gespräch auf Eisbein kommt, leuchten die Augen. Die Fachleute in der Klinik wissen: Bei vielen Patienten baue sich über Jahre eine Fettstruktur auf, die schwieriger wegzubekommen ist. Die Bewegung falle immer schwerer. Dann komme wieder Frust und Esslust in der Folge , um Glückshormone anzureichern. Annette Nagel: „Es ist ein Kreislauf.“ In der Klinik soll der durchbrochen werden.

So hat Helios insgesamt einen höheren sechsstelligen Betrag in den neuen XXL-Bereich investiert, in den Umbau und in Technik. Der Aufbau ist auch noch nicht abgeschlossen. Die Fachleute lernen immer noch dazu und müssen sehr weit denken, „Zu uns kommen ja auch schwerstkranke Menschen“, sagt Managerin Karina Ellermann: „Und zum Leben gehört auch das Sterben.“ Um für diesen traurigen Fall vorzusorgen, werden im Oktober neue, deutlich größere Kühlzellen montiert.

Megawanne für das Bad

Vier Patienten können derzeit aufgenommen werden. Weitere zwei mit Leihbetten. Momentan ist die Klinik voll ausgelastet. Dazu wurden Zweibett- zu Einzelzimmern umgebaut. Annette Nagel erklärt: „Wir mussten zum Beispiel die Gebäudestatik überprüfen und die Sanitärräume anpassen.“ So wurden die Toiletten mit massivem Stahl in der Wand verankert. Bis hin zur Belastbarkeit des Computertomografen, von Stühlen, Sportgeräten und XXL-Krankenhauswäsche sei so vieles zu bedenken. Ein Spezialbett mit Überbreite allein kostet 13 000 Euro. Die neue Megawanne zum Baden der Patienten liegt im ähnlichen Bereich und fasst das Fünffache einer normalen Wanne. Da ist genug Platz für Patienten, die noch weit mehr auf die Waage bringen als René Rackebrandt. Ein Mann aus Berlin rollte im Schwerlast-Krankentranport an und brachte 263 Kilogramm auf die Waage. Inzwischen ist auch bei ihm schon ein Zentner weg. Nun warte der Mann ungeduldig auf einen Spezialrollstuhl. Endlich habe er Hilfe und wolle raus aus dem Bett. Aber mit Gehhilfen von der Stange sei nichts zu machen, so Karina Ellermann. Doch auch die Hersteller von Spezialtechnik brauchen wohl noch Zeit, um sich auf eine dicker werdende Gesellschaft einzustellen. Allein mit Technik ist es indes nicht getan. Es werde vor allem Manpower gebraucht, sagt Pflegedirektorin Annett Nagel. An dem Morgen kommen allein drei Pfleger zur Morgentoilette ans Bett des Berliner Schwergewichts. Sie haben zu tun, den Mann beim Waschen zu bewegen.

Karina Ellermann: „Das alles geht nur, weil wir ein unheimlich motiviertes Team haben.“ Leider werde dieser Einsatz von den Krankenkassen noch nicht in dem Maße anerkannt, wie es nötig wäre. Das hat Patient Rackebrandt längst und ist unendlich froh darüber. 22 Kilogramm ist er schon leichter. In Pulsnitz habe er gelernt, dass auch ein Teller reicht. Mit Gehhilfen gelingen die ersten Schritte. Ergo- und Physiotherapie helfen dabei und viel Bewegung. Zum Beispiel Schwimmen, damit die eingerosteten Gelenke wieder in Schwung kommen. So viel wie möglich will er abspecken und wieder arbeiten. Drum müsse er jetzt auch los, sagt er. Der Fahrradtrainer wartet. Acht Kilometer will René Rackebrandt heute noch radeln. Zurück ins Leben, das Wichtigste an der Reha.