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Die Insellösung

Großbritannien macht vor, wie sich Spitzensport erfolgreich reformieren lässt. Nur Abkupfern hilft aber wenig.

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© action press

Von Tino Meyer

Das mit dem Tellerrand ist so eine Sache und darüber hinauszugucken gar nicht so einfach – wenn der Teller ein tiefer und großer ist und man sich genau in der Mitte befindet. Der Vergleich ist sicher kein besonders schöner, beschreibt die allgemeine Lage des deutschen Spitzensports aber ziemlich gut. Warum also, etwas überspitzt gefragt, auf die anderen schauen, wenn man sich selbst immer noch für den Mittelpunkt der Welt hält?

In Leipzig gucken sie dennoch. Auf dem Gelände der früheren Deutschen Hochschule für Körperkultur, die es mit dem Kürzel DHfK zur weltweit geachteten wie gefürchteten Kaderschmiede brachte und der DDR mehr als nur Unmengen olympischer Medaillen bescherte, ist inzwischen das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft angesiedelt, kurz IAT.

125 Mitarbeiter forschen dort im Auftrag des Innenministeriums für den deutschen Spitzensport – ein Alleinstellungsmerkmal, von denen es im Vergleich mit anderen Top-Nationen nicht mehr so viele gibt. Für die Feststellung würde vermutlich schon der Blick auf den Medaillenspiegel der Olympischen Spiele von Rio reichen. Doch mit Oberflächlichkeiten geben sie sich beim IAT nicht zufrieden. Die Arbeit der Leipziger Sportwissenschaftler ist eine tiefgreifende – und beginnt mit reichlich Theorie im Büro von Hartmut Sandner.

Er leitet den Fachbereich „Information Kommunikation Sport“ und betreibt mit seinen Kollegen so etwas wie Auslandsspionage. Sie stellen sogenannte Länderanalysen auf und werten regelmäßig nach Olympischen Spielen die Spitzensportkonzepte anderer Nationen aus. „Der Leistungssport ist dynamisch und ständig im Wandel begriffen. Ein Olympiazyklus von vier Jahren ist da schon eine kleine Ewigkeit“, erklärt Sandner, der sich nach Rio einmal mehr sehr ausführlich mit Großbritannien befasst hat. Für Deutschland ist die Insel insofern besonders interessant, weil Größe, Einwohnerzahl und zur Verfügung stehende finanzielle Mittel für den Sport in etwa vergleichbar sind.

Von Spionage könne allerdings keine Rede sein, betont er. Sämtliche Dokumente seien frei zugänglich im Internet. Gleiches gilt für die USA, Frankreich und Australien, die diesmal ebenfalls im nacholympischen Fokus des IAT standen.

Man muss die Literatur nicht komplett verschlingen um festzustellen, dass vor allem die genannten Nationen vielfach deutlich professionellere Strukturen aufweisen als das deutsche Spitzensportsystem, mit insgesamt 42 Medaillen bei den Sommerspielen zuletzt noch gut bedient. „In Rio ist sehr viel aufgegangen. Das erklärt den fünften Platz in der Medaillenwertung. Doch wenn sich nicht schleunigst etwas tut, wird die Welt an uns vorbeiziehen“, sagt einer aus dem inneren Zirkel des Systems, der aber namentlich lieber nicht genannt werden möchte. Nicht weniger als ein Kulturwandel sei nötig, betont er.

Auch deshalb passt das Beispiel Großbritannien ganz gut. Denn die Briten haben ihre Spitzensportreform schon hinter sich. Ausgangspunkt war das desolate Abschneiden bei Olympia 1996 mit einem einzigen Olympiasieg und Platz 36 in der Länderwertung. In Rio sind sie nun Zweiter gewesen, haben zum fünften Mal hintereinander ihr Ergebnis verbessert und damit geschafft, was noch keiner Nation zuvor gelungen ist: vier Jahre nach den Heim-Spielen in London nochmals mehr Medaillen zu gewinnen. Wie das funktioniert? „Erfolg durch Planung, nicht durch Zufall“, heißt das Motto, das inzwischen Staatsräson ist. Dass Tracey Crouch, die für Sport verantwortliche Staatssekretärin, zugleich lizenzierte Fußballtrainerin ist, passt ins Bild.

Festmachen lässt sich der britische Erfolg aber an fünf wesentlichen Punkten.

- Acht- statt Vierjahresstruktur in der Planung, also zwei Olympiazyklen

- eindeutige Fokussierung auf die Maximierung von Medaillen als Ziel, das von der Gesellschaft, der Regierung, dem Sport und den Medien mitgetragen wird („No-Compromise-Strategie“)

- zielgerichtete Trainer-Aus- und Weiterbildung für den Hochleistungsbereich

- konstante, nachhaltige Finanzierung aus öffentlichen Mitteln und Überschüssen der nationalen Lotterie

- starke Integration von Forschung und Wissenschaft in Training und Wettkampf (English Institute of Sport in Manchester)

Organisiert wird das Spitzensportsystem zentral von UK Sport. Das ist eine 1997 gegründete Regierungsagentur mit derzeit 77 Mitarbeitern, die im Nachwuchsleistungssport mit den vier regionalen Sportorganisationen für England, Schottland, Wales und Nordirland zusammenarbeitet.

Wer dahinter das DDR-System erkennt, liegt nicht ganz falsch – hat aber auch nicht unbedingt recht. Denn egal, ob damals oder heute, ob DDR, USA, Russland oder Großbritannien: Es gibt acht, neun Säulen, die unabdingbar sind, um erfolgreichen Leistungssport zu organisieren. „Womöglich ist die DDR nur das erste Land gewesen, das diese Säulen als Grundsystem zur Entwicklung des Leistungssports identifiziert hat. Und das machen die anderen Länder jetzt auch“, sagt Sandner.

Darum geht es schließlich allen: die Bedingungen für Leistung zu schaffen, einen Plan für das Medaillengewinnen zu haben und konsequent zu verfolgen. Also Säulen zu verankern, die sich – Zufall oder nicht – nun auch in der deutschen Spitzensportreform wiederfinden. Von den Briten lernen, heißt aber nicht automatisch siegen lernen. Bloßes Abkupfern und Nachmachen funktioniert nämlich nicht. Das würde zu lange dauern im schnelllebigen Leistungssport. Außerdem, sagt Sandner, „schrauben zwar alle an den gleichen Problemen. Aber eine britische Schraube passt nicht in den deutschen Motor“. Stattdessen müssen Lösungen immer den eigenen Gegebenheiten angepasst, also ins nationale Gewand gekleidet werden.

„Es geht nicht darum, etwas zu kopieren, sondern Denkanstöße zu geben“, erklärt Sandner. Das Interesse an den IAT-Ergebnissen ist bei den deutschen Verbänden auch vorhanden, die Akzeptanz aber unterschiedlich ausgeprägt. Jeder nimmt das heraus, was für ihn passt. Oder besser: Was nicht wehtut. Nur der Tellerrand wird dabei eher selten erreicht.