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Die Hüter der Erinnerung

Noch einmal öffnete die alte Staatsoperette am Wochenende ihre Türen. Hunderte sicherten sich ein Andenken.

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© Christian Juppe

Von Henry Berndt

Seit geschätzten 6 000 Jahren ist er unterwegs, um besondere Momente für die Ewigkeit festzuhalten. Am Samstag machte der Hüter der Erinnerung Halt im alten Haus der Staatsoperette in Leuben. „Das Gebäude geht“, murmelt der geheimnisvolle Mann mit dem Schlapphut, „aber die Erinnerung wird nicht sterben.“ Dafür sorgt er mit seiner Zeitkapsel, in der Besucher ihre persönlichen Erlebnisse in ein Mikrofon sprechen können. Irgendwann, in einigen Jahren, sollen die Aufnahmen wieder öffentlich gemacht werden. Seine Helferin, die goldene Erinnerungsfee, hilft derweil am Stand nebenan. Hier kann man sich aus Plakaten kleine Bildchen ausschneiden und sich daraus selbst Buttons pressen. „Wir wollen dadurch noch einmal mit den Besuchern ins Gespräch kommen, die dieses Haus hier seit vielen Jahren kennen“, sagt Zoe Nora Goerges, Musiktheaterpädagogin an der Staatsoperette.

Hunderte folgten der Einladung zum großen Kehraus am Samstag mit Liedern, Tanz, Führungen und viel Abschiedsschmerz – und sicherten sich gleich noch Andenken. So wie Annerose Meißner. „Meine Cousine hat hier früher beim Vogelhändler gesungen“, sagt sie. „Heute ist sie 88 und freut sich bestimmt.“ Passenderweise ziert den Button ein kleiner Vogel. Mit ihrem Mann Hubert hat Annerose Meißner schon seit DDR-Zeiten ein Anrecht in der Staatsoperette. Nun überwiegt bei den beiden die Vorfreude auf das neue Haus. „Im Sommer war es hier doch ganz schön warm“, sagt Annerose. „Wir wollten den Umzug unbedingt noch erleben.“

Während sie ihren Button basteln, hieven hinter ihnen Besucher große Plastiksäcke in Richtung Ausgang. Sie sind voll mit Requisiten und Kostümen aus dem schier unerschöpflichen Operettenfundus. Mehr als 1 000 Stücke, die keine Verwendung auf der Bühne mehr fanden, standen am Samstag ab 10 Uhr in der Verwaltungsetage zum Verkauf. „Die Ersten warteten schon ab halb neun“, sagt Sprecherin Jana-Carolin Wiemer. „Und ab zehn herrschte hier Ausnahmezustand.“

Der Ansturm auf die Kostüme und Accessoires übertrifft alle Erwartungen. Im engen Treppenhaus geht eine Stunde lang fast nichts mehr. Halb zwölf sind im alten Personalbüro nur noch die leeren Kisten übrig – und selbst die wollen die Leute mitnehmen. Auf den Kleiderständern hängen nur noch ein paar Baströcke. Eine Kindergärtnerin ergattert für zehn Euro noch ein imposantes schwarzes Spinnenkostüm. Viele nutzen die Chance und schauen gleich noch mal in das leere frühere Büro von Intendant Wolfgang Schaller rein.

Auch Regina Hähle ist zum Abschiedstag in die alte Operette gekommen. „Ich wollte noch einmal dieses Flair hier atmen“, sagt sie. Ihr 2006 verstorbener Mann Dietmar sang hier 14 Jahre lang im Chor. „Ach, ich verbinde so viele tolle Erinnerungen mit diesem Haus.“ Und dennoch: Die Bedingungen für die Künstler seien schon lange nicht mehr tragbar gewesen.

Zum Kehraus konnte sich nun jeder selbst noch mal ein Bild davon machen: von den Umkleideräumen, der Maske, vom Orchestergraben samt Instrumenten – und auch von der Bühne direkt hinter dem „Eisernen Vorhang“ anno 1955.

Hier steht Hausregisseur Arne Böge und erzählt mit großer Geste von den Mühen eines Künstlers in einem Haus, das nie als Theater gebaut wurde und 70 Jahre lang ein Interimsstandort war. „Bis jetzt hatten wir einen VW Käfer. Bald haben wir einen Jumbo Jet“, sagt er voller Vorfreude auf die neue Spielstätte im Kraftwerk Mitte. Allein die Bühne dort wird dreimal tiefer sein als die bisherige in Leuben. Entdecke die Möglichkeiten!

Viele fragen sich aber auch, was denn jetzt aus dem alten Gebäude wird, in dem sie so viele schöne Stunden verbrachten. Die Antwort müssen die Noch-Hausherren auch an diesem Tag schuldig bleiben.