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Die Heimat der anderen

Joachim Otto wurde in Lauban geboren. Nun liest er dort vor polnischen Kindern deutsch-polnische Geschichten.

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© Pawel Sosnowski

Von Frank Seibel

Lauban. Wenige Tage nach einem spektakulären nationalistischen Aufmarsch in Polens Hauptstadt fällt mildes Morgenlicht auf eine Deutschlandfahne in Luban. „Herzlich Willkommen“ steht über dem schwarz-rot-goldenen Banner. An der gegenüberliegenden Wand hängt eine große Landkarte mit Flaggen und Farben. „Unia Europejska“ steht darüber, Europäische Union. Es ist ein sonniger Morgen in der Szkola Podstawowa Nr 1, der Grundschule Nummer Eins. Umringt von zwei Dutzend Mädchen und Jungen im Alter von 14 Jahren sitzt ein Mann mit kurzen grauen Haaren. Er wurde hier ganz in der Nähe geboren, als das Gebäude noch „Pestalozzischule“ hieß und die Stadt Lauban statt Luban. Das ist mehr als 76 Jahre her. So alt ist Joachim Otto, und obwohl er keine eigenen Erinnerungen an seine ersten vier Lebensjahre hat, zieht es ihn immer wieder in diese östlichste Stadt des Oberlausitzer Sechsstädtebundes. Hier hatten sein Großvater und sein Vater eine Taschentuchfabrik besessen, ganz in der Nähe der Schule.

Jetzt ist Joachim Otto gekommen, um den polnischen Schülern davon zu berichten, dass er, der Deutsche, hier geboren wurde und dass dies seine Heimat geworden wäre, wenn durch den Krieg, den die Deutschen angezettelt haben, nicht diese ganze Region durcheinandergewirbelt worden wäre. Als die Großeltern und Urgroßeltern dieser Schulkinder vom Osten Polens in die östliche Oberlausitz kamen, waren sie Vertriebene; und er, der kleine Junge von vier Jahren, war ebenfalls ein Vertriebener und mit seiner Familie auf der Flucht nach Niederbayern.

„Ich bin in Lauban geboren“, sagt Otto in die Runde und schaut die Kinder eindringlich an. „Aber heute ist dies Luban, und es ist eure Heimat.“ Seit vielen Jahren ist es geradezu eine Mission für ihn, den jungen Menschen in der Region anschaulich zu machen, dass es nicht so wichtig ist, ob man Pole oder Deutscher ist, sondern dass wir alle erst einmal Europäer sind. Dazu hat er vor reichlich sieben Jahren ein Buch geschrieben, das von zwei Katzen handelt. Eine lebt in Görlitz, eine auf der anderen Seite der Neiße in Zgorzelec. Görli und Gregorek heißen die, sind ganz schön verknallt ineinander und verstehen gar nicht, warum die Menschen so ein Trara machen um diesen Fluss, der 1945 aus einer Stadt zwei gemacht hat – und das noch in zwei Ländern.

Luban setzt auf Partnerschaft

Mit diesem Buch im Gepäck ist Joachim Otto auf einer Lesereise durch die Schulen seiner Geburtsstadt. Ein Dutzend Auftritte vor Kindern und Jugendlichen der sechsten bis achten Klasse, die sich jeweils gut vorbereitet haben auf ihren Gast, den Schriftsteller aus Deutschland. Und der freut sich über den warmen Empfang, das „Herzlich Willkommen“ auf der Deutschlandfahne. Nicht selbstverständlich in einer Zeit, da nicht nur deutsche Medien intensiv und voller Befremden über den erstarkenden Nationalismus und Chauvinismus im Nachbarland berichten. „Ach, nun hört mal auf mit eurer Propaganda“, sagt eine Lehrerin irgendwann am Rande einer der Lesungen. Die Deutschen sollten das mit dem Kaczynski mal nicht so übertreiben. Deutschlehrerin Aleksandra Kalinowska verweist darauf, dass ihre Schule 15 Jahre lang eine Partnerschaft zu einer Oberschule in Bautzen gepflegt habe. Das sei nun leider zu Ende. Aber nicht wegen der polnischen Regierung um Jaroslaw Kaczynski und seiner PiS-Partei, sondern weil die neue Leiterin jener deutschen Schule in einem ziemlich unfreundlichen Brief mitgeteilt habe, dass man kein Interesse mehr an einer deutsch-polnischen Partnerschaft habe und nun andere Schwerpunkte setze. Aber in Luban halten sie an den deutsch-polnischen Projekten fest. Und so sitzt nun Joachim Otto zwischen Deutschlandfahne und EU-Karte.

Der Mann aus Deutschland hat Katzen mitgebracht. Ein Dutzend Kuscheltiere und für jede Klasse eine Schachtel mit Plätzchen in Katzenform. Die hat der Görlitzer Bäcker Dirk Wittig gebacken. 350 Stück insgesamt. Damit hat Otto die Herzen der Kinder schon gleich gewonnen.

Dann tasten sich die Schüler und der Autor im Wechsel voran. Ein Kapitel auf Polnisch, eines auf Deutsch. „Masz kota – du hast eine Katze – sagen die Zweibeiner in Zgorzelec, wenn die Görlitzer Zweibeiner sagen: Du hast einen Vogel.“ Es sind solche kleinen Alltagsbeobachtungen, die aus der Perspektive der Katzen die Unterschiede ganz klein und niedlich erscheinen lassen, die von den Menschen manchmal ganz schon aufgepustet werden.

Nach jeder Lesung gibt’s eine Fragerunde. Und eine Frage der Schüler lautet fast immer: „Warum haben Sie Katzen als Hauptfiguren für Ihre Geschichte ausgewählt?“ Natürlich, weil Joachim Otto Katzen mag und selbst eine hat. Aber er erklärt auch: Katzen lieben die Freiheit, sie sind klug, eigenwillig und lassen sich nicht von einer Gruppe vereinnahmen. Das verstehen die Kinder in Luban.

Dass ihre Stadt früher einmal deutsch war, wissen alle. Das ist nicht selbstverständlich. Die kommunistische Regierung hatte nach dem Krieg lange Zeit bewusst den Eindruck vermittelt, der neue Westen Polens sei urpolnisches Gebiet. Das trifft zwar auf manche Gegenden zu – aber dazu muss man ein halbes Jahrtausend zurückblicken. In der Generation der heutigen Schüler und ihrer Eltern ist es jedoch üblich geworden, nach der Geschichte der Heimatstadt und der Region zu fragen, hat Joachim Otto beobachtet. Das bestätigt auch die Leiterin der Grundschule 1, Beata Mysliwiec. „Wir haben in Luban ein Museum, das die Geschichte der Stadt zeigt. Da spielt natürlich die Zeit vor 1945 eine große Rolle“, sagt sie. Auch die Textilfabriken von Großvater und Großonkel von Joachim Otto seien dort ein Thema. „Alle Schulklassen besuchen einmal dieses Museum.“

Schlesien immer im Ohr

Joachim Otto trauert nicht diesem konkreten Ort seiner Kindheit nach. Aber er trauert, das verdeckt er nicht, einer Heimat nach. Denn willkommen war seine Familie in Niederbayern nicht. „Flüchtlinge“ waren sie da. Ein Kloster gab der Familie für einige Zeit Schutz und Geborgenheit. Nach wenigen Jahren ging es weiter nach Württemberg, wo Joachim Otto Abitur machte. Ein Lebens-Schlenker nach Norden, dann wieder runter in den Südwesten, wo Joachim Otto dann bis zur Rente lebte. Ein Zuhause hat er dort zwar gefunden, hat da geheiratet und eine Tochter großgezogen, aber Wurzeln, sagt er, wirkliche Wurzeln habe er in Württemberg nicht schlagen können. Und da war dieser Klang des Schlesischen in seinen Ohren. Er hatte sich eingenistet in Kindertagen, als seine älteste Tante ihm in der Mundart ihrer schlesischen Heimat Geschichten vorgelesen hat. Deshalb zog es Joachim Otto schließlich nach Görlitz, eine halbe Stunde nur von seinem Geburtsort Luban entfernt.

Das Schreiben ist mittlerweile an zentrale Stelle in Joachim Ottos Leben gerückt. Aus der deutsch-polnischen Katzenliebe möchte er gerne noch ein Musical machen. Viele Ideen hat er dazu schon im Kopf.