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Die große Aussprache in Görlitz

Im Görlitzer Wichernhaus diskutieren 250 Menschen über den Flüchtlingsstrom – und hören einander ruhig zu.

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© nikolaischmidt.de

Von Frank Seibel

Es war ein Experiment, eine Reaktion auf die aufgeheizte Stimmung, auch in Görlitz, vor allem aber im Freistaat. Wenn die Ängste der Menschen angesichts der vielen Flüchtlinge zu groß werden, wenn die Enttäuschung vieler Menschen über die herrschende Politik in Aggressivität umschlägt und zu immer bedrohlicheren Protesten in Dresden und zu Demonstrationen in Görlitz führt, dann muss man den Dialog suchen. Das hatten sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Kretschmer und sein Landtagskollege Octavian Ursu vorgenommen.

Ihrer Einladung zum „Dialogforum“ über Asyl und Migration im Wichernhaus folgten am Mittwochabend mehr als 250 Menschen. Es versammelten sich Bürger aus allen Bereichen der Görlitzer Gesellschaft und mit unterschiedlicher politischer Einstellung. Die beiden Abgeordneten, Dezernent Werner Genau vom Landkreis, Oberbürgermeister Siegfried Deinege und Vertreter der Polizei bildeten den Kern – um sie herum im runden Arena-Format das Publikum. Dass es eine betont sachliche und doch offene Aussprache wurde, ist nicht zuletzt dem Moderator des Abends zu verdanken. Justus H. Ulbricht von der Landeszentrale für politische Bildung steuerte den Abend souverän. Die SZ fasst die Anmerkungen und Fragen der Bürger zusammen – und die Antworten der Politiker und Experten.

Wie schnell plant der Landkreis, Flüchtlinge auch in privaten Wohnungen unterzubringen?

Das passiert schon jetzt, sagt der zuständige Dezernent des Landkreises, Werner Genau. Von 1 400 Asylbewerbern, die derzeit im Landkreis leben, seien 850 in Wohnungen untergebracht, die Hälfte davon bei privaten Vermietern und nicht bei großen Wohnungsunternehmen.

Wenn man junge Männer schon längere Zeit in Massenunterkünften unterbringt, sollte man sie – wie beim Militär – formen und unseren gesellschaftlichen Normen anpassen.

Kasernierung löst keine Probleme, sondern provoziert erst welche, sagt der Landtagsabgeordnete Octavian Ursu. „Wenn man 500 Bayern in eine Halle packen würde, würden die sich auch nach einer Woche prügeln“, sagt er und fordert schnelle Verfahren, damit Flüchtlinge aus Massenunterkünften herauskommen und in die Gesellschaft integriert werden können.

In manchen Stadtvierteln haben Deutsche mittlerweile Angst, sich frei zu bewegen. Das wird verstärkt durch Kinder aus Kriegsgebieten, die hier mit Spielzeugwaffen spielen. Ist Gewalt für diese Kinder normal?

„Ich habe früher auch mit Spielzeugpistolen gespielt und bin nicht gewalttätig geworden“, sagt Octavian Ursu. Das gehöre zur Normalität des Kindseins. Der Chef der Kriminalpolizei in der Oberlausitz, Klaus Mehlberg, ergänzte aus fachlicher Perspektive. Görlitz sei zwar „von Kriminalität sehr belastet“, aber Asylbewerber spielten dabei so gut wie keine Rolle. „Uns sind nur wenige Straftaten bekannt, und die spielen sich fast ausschließlich in Asylheimen ab“, sagte Mehlberg.

Meist seien Konflikte aufgrund von Meinungsverschiedenheiten, religiösen Unterschieden oder aber die allgemein belastende Situation der Menschen in zentralen Unterkünften die Auslöser. Da die meisten Flüchtlinge in Görlitz aber in Wohnungen leben, gebe es in der Stadt sehr wenige Probleme. Mehlberg betonte ausdrücklich, dass im gesamten Direktionsgebiet, also in den Kreisen Bautzen und Görlitz, bislang keine einzige Vergewaltigung und kein Fall von Kindesmissbrauch gemeldet wurden, an denen Flüchtlinge beteiligt gewesen sein könnten. Der Bundestagsabgeordnete Michael Kretschmer mahnte, Gerüchte immer zu hinterfragen.

Wie sollen die Menschen, die schon da sind, integriert werden?

Klare Botschaft der beiden Politiker: Sie müssen so schnell wie möglich in die Lage versetzt werden, eigenständig zu leben. Das heiße auch, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen sollen, betonte Octavian Ursu. Deutschkurse sollen nicht nur ein Angebot sein, sondern Teil eines für alle Zuwanderer verpflichtenden Integrationsprogramms sein; dazu gehört es nach seiner Einschätzung auch, die Gesetze und Werte der einheimischen Gesellschaft zu kennen und zu respektieren.

Spielt die Arbeitslosigkeit in einer Region bei der Verteilung von Flüchtlingen eine Rolle?

Grundsätzlich wird berücksichtigt, wie wohlhabend eine Region im Durchschnitt ist. Allerdings bedeutet das nicht, dass weniger Flüchtlinge in den Raum Görlitz kommen, die mit den Einheimischen um Arbeitsplätze konkurrieren. Oberbürgermeister Siegfried Deinege sagte, dass die meisten Arbeitslosen keine Chance mehr hätten, jemals wieder eine reguläre Arbeit zu erhalten. Von den 4 000 Arbeitslosen in Görlitz seien 2 000 schon lange Zeit arbeitslos – und von denen seien 1 500 weit über 50 Jahre alt. „Viele werden sich auch durch noch so gute Programme nicht wieder in den Arbeitsmarkt eingliedern lassen.“

Deinege betonte, dass die Stadt in den nächsten Jahren mehr Fachkräfte brauche. „Wir können als Stadt ohne Migration nicht überleben.“ Für diese Aussage erntete er besonders starken Applaus. Michael Kretschmer plädierte allerdings dafür, die Asylfrage nicht mit der Zuwanderung von Fachkräften zu vermischen. „In der EU leben 500 Millionen Menschen. Wir sollten zuerst in Europa nach Fachkräften suchen, bevor wir Menschen aus Afrika holen.“

Vor einigen Monaten galt man als Rechtspopulist, wenn man in Sachsen die Aussetzung der Polizeireform und eine Aufstockung des Personals im Bundesamt für Migration forderte – jetzt übernimmt die Staatsregierung Forderungen der AfD.

Moderator Justus Ulbricht: Das könne man auch so werten, dass Politik und Gesellschaft lernfähig sind.

Wie wollen wir verhindern, dass wir uns mit den Flüchtlingen nicht auch radikale Islamisten ins Land holen – sind unsere Sicherheitskräfte da nicht überfordert?

Michael Kretschmer betonte mehrfach, dass die Zahl der Menschen, die nach Deutschland kommen, um Asyl zu beantragen, begrenzt werden müsse. Er verteidigte ausdrücklich die Politik Ungarns und sagte, dass auch in der CDU intensiv darüber nachgedacht werden müsse, wie Deutschland verhindern kann, dass Menschen unkontrolliert ins Land kommen.

Das Wichtigste sei, dass der Staat weiß, wer ins Land einreist. Dazu sei es unerlässlich, Zuwanderer zu registrieren. Nichts anderes habe Ungarns Regierung getan. Man müsse aber realistisch sein und sich eingestehen, dass man die Außengrenze der Bundesrepublik mit insgesamt rund 3 000 Kilometern Länge nicht komplett abriegeln könne.

Asyl ist ein individuelles Recht, kein Gruppenrecht. Es kann also immer nur darum gehen, einzelnen Menschen Schutz zu gewähren, die politisch oder religiös verfolgt werden. Auch ist ein Bürgerkrieg kein Asylgrund.

Nach der Gesetzesänderung in der vergangenen Woche habe die Bundesrepublik nun das schärfste Asylrecht aller Zeiten, sagte Michael Kretschmer. Allerdings müsse es weiter reformiert werden. Das Asylrecht sei vor beinahe 70 Jahren aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Nun sei es an der Zeit, es grundsätzlich zu überprüfen und anzupassen. Das Recht auf Asyl müsse Menschen Schutz bieten, die verfolgt werden. Für Menschen, die nach einem besseren Leben streben, müsse es andere Regeln geben.

Es muss vor allem alles viel schneller gehen: die Entscheidung über einen Asylantrag, die Möglichkeiten, hier zu arbeiten, die Integration insgesamt.

Michael Kretschmer berichtet von einem bewegenden Beispiel aus Löbau. Vor einem Jahr kamen dort 40 junge Männer aus Eritrea an, die der Militärdiktatur entkommen waren. „Sie waren glücklich wie noch nie. Ein Jahr später sind viele von ihnen gebrochene Menschen, weil bis heute nichts passiert ist.“ Er sagte das selbstkritisch. Fast alle Menschen aus Eritrea bekommen Asyl. Ihnen müsse man die Möglichkeit geben, zu arbeiten, auch wenn über ihre Anträge noch nicht entschieden wurde.