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Die Gewissensfrage bleibt

Sollen Eltern ihre Kinder dem Leistungssport anvertrauen? Rudertrainerin Regine Rieß hat darauf ihre Antwort, das Reformkonzept auch.

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© Matthias Rietschel

Von Jochen Mayer und Tino Meyer

Talente sind oft gut versteckt, wollen gefunden werden. Die kleine DDR perfektionierte dafür ein System. Sogar Heinz Quermann, der eigentlich nur Schlagersterne suchte, ließ sich dafür einspannen. Im TV-Renner „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“ – einst Weihnachts-Pflichtprogramm in vielen Familien – warb der Conférencier 1967 um große Jungs für das Rudern. Mehr als hundert meldeten sich, 25 fischte der SC DHfK Leipzig heraus. Unter ihnen Siegfried Brietzke. Der gebürtige Rostocker gewann dreimal Olympiagold.

Der Aufruf hoffte auf Zufallstreffer. Viel erfolgreicher funktionierte das Sichtungsnetz, dem kaum ein DDR-Schüler ausweichen konnte. Schon in Kindergärten wurde nach künftigen Eisläufern gesucht, wenig später Turner, in unteren Klassen Schwimmer, danach Skiläufer, Leichtathleten, Ruderer, Radsportler. Das Spektrum war groß, Sportunterricht zentral reguliert, die Kaderpyramide verdiente ihren Namen.

In diesem System betreute Regine Rieß Rudertalente. Nach dem Sportstudium kam sie 1976 an die Dresdner Sportschule. Damals gab es Sichtungstrainer, die pflegten Kontakte zu Sportlehrern, die einen Blick für Talente hatten. „Straßensichtung ab der 7. Klasse nannte sich das“, sagt die 62-jährige Dresdnerin. Nach einer Sport-Woche mit Tests in Kreischa waren die Besten gefunden, die Sportschule folgte, und jede Altersklasse hatte ihren Coach. Beim SC Einheit arbeiteten 13 Rudertrainer plus Festangestellte in den Trainingszentren.

Heute ist Regine Rieß Landestrainerin im Rudern. Sie betreut immer noch Talente, hat allerdings mit drei hauptamtlichen Mitstreitern deutlich weniger Kollegen. In Dresden, Leipzig und Pirna lassen sich noch Ruderer finden, dafür sorgt ein sächsisches Regionaltrainer-System. Aber: „Es wäre gut, wenn das auch in weiteren Orten möglich wäre“, sagt die Fachfrau und erklärt: „Alleine mit Ehrenamtlichen ist das nicht möglich. Dafür wäre mehr Personal für die Betreuung in den Vereinen nötig, das kostet natürlich Geld.“

Für Regine Rieß ist selbstverständlich, dass für Erfolg an der Spitze Investitionen an der Basis nötig sind, weil „die breit und fest sein muss“. Dafür fehlte nach der Wende oft das Geld. Deshalb schaut sie neidvoll zum Fußball, wo der DFB genau den Weg beschritten hat – mit dem WM-Sieg 2014 als Krönung. Aber den Nichtfußballern fehlt Geld und Personal. Und nicht jede Schule öffnet ihre Türen für Sportsichtung. Das ist gutes Recht. Jedes Land kann es anders handhaben. Das föderale System will es so. Nachwuchssport ist Ländersache.

Eine grundlegende Frage stellt Christian Schenk, der Zehnkampf-Olympiasieger von 1988, als einer der angehörten Experten im Sportausschuss des Bundestags am 19. Oktober. „Würden Sie Ihr Kind zum Hochleistungssport geben, außer Fußball und Tennis? Würden Sie das wirklich machen?“ Diese Frage, sagt Schenk, der inzwischen für ein Bildungsprogramm arbeitet, bekomme er fast täglich gestellt. Er meint: „Diese Frage mit ruhigem Gewissen zu beantworten, ist schwierig.“

Auch Regine Rieß hört das von unschlüssigen und zweifelnden Eltern. Die Trainerin setzt auf die Werte des Sports. Sie weiß aus eigenem Erleben, dass „wer Freude und Erfüllung beim Sport findet, sich diszipliniert. Da zeigt sich, wer zielstrebig ist. Das hält ein Leben lang. Werte wie Disziplin, Pünktlichkeit, Dinge zu Ende bringen, Ehrgeiz braucht jeder im Beruf.“

Die Trainerin wünscht sich, dass die Politik mehr würdigt, dass Kinder von der Straße geholt werden. Erfolg ist für sie nicht das einzige Kriterium zur Bewertung des Leistungssports. „Was an der Basis mit Langzeitwirkung passiert, das hilft allen“, sagt sie und schlussfolgert: „Allein deshalb müssten Trainer bessergestellt werden, auch wenn das mehr Geld erfordert.“ Doch trotz aller Werte: Bietet der Sport Talenten auch eine berufliche Zukunft? Bleibt nach der Karriere eine Perspektive im Berufsleben? Armee, Zoll und Polizei ermöglichen solche Berufswege. Und es gibt Studiengänge und Arbeitgeber mit großem Verständnis für Leistungssportler. Doch an ein College-Sportsystem wie in den USA ist in Deutschland nicht zu denken. „Die Systeme lassen sich nicht kopieren“, sagt Ulf Tippelt, Direktor des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaften Leipzig.

So lautet nach wie vor die deutsche Formel: duale Karriere – Verbindung von Ausbildung und Leistungssport. Ruderer Philipp Wende meisterte diese Herausforderung. Der Wurzener machte 2013 seinen Abschluss an der Bergakademie Freiberg – legte dafür ein ruhiges Sportjahr ein und schaffte erneut den Anschluss an die Weltspitze. In Rio wurde er zum zweiten Mal Olympiasieger.

Weniger gut kam Silvio Schirrmeister mit der Doppelbelastung zurecht. Der Dresdner 400-Meter-Hürdenläufer scheiterte daran, Beruf und Training unter einen Hut zu bekommen. Für den Junioren-Europameister war die duale Karriere die „schrecklichste Kreatur, die der deutsche Sport geschaffen hat“.

Der Bankkaufmann sah sich als ambitionierter Hobbysportler in einer Welt des Profisports. 70 Wochenstunden kamen für ihn im Sport und auf Arbeit zusammen. Er verzichtete zudem auf Urlaub. Nach physischen und psychischen Zusammenbrüchen gab er auf. Der WM- und Olympiateilnehmer bilanzierte vor einem Jahr gefrustet: „Das Land will Medaillen, aber in die zweite Reihe investieren will es nicht.“

Im Reform-Entwurf bekennen die Initiatoren dann auch, dass es in Deutschland am gezielten Aufbau von Talenten bis zum Hochleistungssport fehlt, dass es eine relativ hohe Abbrecherquote gibt. Dropout heißt das im Fachjargon, wenn sich junge Sportler trotz zweifellos vorhandenen Erfolgspotenzials für eine vorzeitige Beendigung ihrer leistungssportlichen Karriere entscheiden.

Die Gründe sind vielschichtig. Unter anderem mangelt es an Maßnahmen zur Talentsuche. Und auch „im Schnittstellenbereich von der Landes- zur Bundesebene fehlen häufig optimal ineinandergreifende Systeme“, heißt es im Reformpapier.

Als Lösungsvorschlag wird deshalb nun ein zentrales, sportartübergreifendes Drei-Stufen-Modell präsentiert. Das soll Talentsichtung mit bundesweiten Bewegungs-Checks (Stufe 1) sowie Talentauswahl (Stufe 2) und Talentbestätigung (Stufe 3) – jeweils realisiert durch den Spitzensportverband – sicherstellen. „Die Zusammenarbeit mit den Grundschulen ist für den Erfolg entscheidend“, heißt es. Auch die Eltern sollen laut Entwurf frühzeitig in den Prozess eingebunden werden.

„Es gibt keine einfachen Lösungen im deutschen Sport“, sagt Trainerin Rieß. Das bestätigt ein anderer Insider drastisch: „Die Geburtsfehler sind kaum zu korrigieren.“ Woran Regine Rieß aber weiter ganz fest glaubt, sind die ursprünglichen Werte des Sports. Die haben etwas Bleibendes.