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Die Geschichte von Paul und Paule

Seguin senior hat mit dem 1. FC Magdeburg den Europapokal gewonnen, sein Sohn spielt jetzt bei Dynamo.

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© Robert Michael

Von Sven Geisler

Die Idee mit dem Vornamen hat seine Frau. Wenn es wieder ein Junge wird, meint Kerstin Seguin, nennen wir ihn Paul, weil seinen Papa alle „Paule“ rufen, obwohl der Wolfgang heißt. Seinen Spitznamen bekommen auch die anderen vier Söhne verpasst, und der „richtige“ Paul erzählt schmunzelnd: „Wenn wir beim Essen am Tisch sitzen und alle Paul genannt werden, ist das manchmal schon irritierend.“ Er ist mit 22 der Jüngste in der Runde und der Einzige, der auf Vaters Spuren wandelt mit einer Karriere als Profi-Fußballer.

Paul und „Paule“ – Seguin junior tritt in die Fußstapfen seines Vaters, der in Magdeburg spielte.
Paul und „Paule“ – Seguin junior tritt in die Fußstapfen seines Vaters, der in Magdeburg spielte. © privat
Der kleine Paul mit seinem ersten Pokal als bester Spieler.
Der kleine Paul mit seinem ersten Pokal als bester Spieler. © privat

Wobei Seguin senior das streng genommen gar nicht war, sondern Maschinenbauingenieur, wie er erzählt. „Meinen Beruf habe ich nie ausgeübt. Wir waren ja Staatsamateure, brauchten nicht zu arbeiten.“ Er spielte in den 1970er-Jahren beim 1. FC Magdeburg, gewann dreimal die DDR-Meisterschaft und sechsmal den Pokal. Bei seinem größten Erfolg erlebte er zugleich eine seiner tiefsten Enttäuschungen. Seguin erzielte den zweiten Treffer bei Magdeburgs 2:0-Sieg im Finale des Europapokals der Pokalsieger 1974 gegen den AC Mailand. Doch die Sensation passierte fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. „Zum Halbfinale bei Sporting Lissabon hatten wir 75 000 Zuschauer, aber zum Endspiel in Rotterdam nur magere 5 000“, erinnert sich Wolfgang Seguin.

Der 1. FCM war krasser Außenseiter gegen das Starensemble um Weltfußballer Gianni Rivera und den jungen Chefcoach Giovanni Trapattoni. Aber die Bezirksauswahl aus dem Osten hatte einen cleveren Trainer. „Heinz Krügel war unser Psychologe. Er hat uns so stark geredet, dass ich irgendwann selber geglaubt habe, ich sei Weltklasse“, meint Vater Seguin. Seine Erfolge könnten eine Last sein für den Sohn, der beim VfL Wolfsburg bereits 26-mal in der Bundesliga spielte und für diese Saison ausgeliehen ist an Dynamo Dresden in die zweite Liga.

Seguin junior empfindet das jedoch nicht so, jedenfalls nicht mehr. „Das belastet mich auf keinen Fall“, sagt Paul. „Was er erreicht hat ist schon Wahnsinn, darauf bin ich stolz. Aber der Fußball hat sich verändert, ich wäre froh, wenn ich wenigstens einen Titel hole.“ Der Vater hat ihn unterstützt, aber nie gedrängt. Das sei gar nicht nötig gewesen, sagt Wolfgang Seguin und erzählt eine Episode: „Wo willst du denn hin mit dem Schneeschieber“, hat er den kleinen Paul gefragt – und konnte sich die Antwort eigentlich denken: zum Bolzplatz. „Den hat er alleine frei geschippt und dann ein paar Jungs zum Spielen geholt. Er ist früh mit dem Ball im Arm aufgestanden und abends ins Bett gegangen.“

Wenn es draußen mal nicht ging, haben die Jungs im Wohnzimmer gekickt. „Ich wundere mich immer noch, dass die Scheiben gehalten haben.“ Der Filius bezeichnet sich selbst als „fußballkrank“. Wenn er Samstag ein Spiel hatte, ist er danach noch mit den Kumpels kicken gegangen. Das ging bis zur U15 so. Da spielte er schon lange in Wolfsburg. Als dreieinhalb Jahre alter Dreikäsehoch wollte er mit dem älteren Bruder zum Training bei Lok Stendal, bis der Übungsleiter tatsächlich zur Mama sagte: „Frau Seguin, kaufen Sie dem Jungen Fußballschuhe, er macht bei uns mit.“ Also hat der kleine Paul bei den Neunjährigen rumgewuselt. Mit elf wurde er dann bei einem Turnier von Talentspähern des VfL entdeckt.

Sechs Jahre lang ist er täglich mit dem Zug von Stendal gependelt, was in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung war. „Ich hatte 15.30 Uhr Unterrichtsschluss, und 15.35 Uhr fuhr der Zug.“ Mama wartete also mit dem Auto vor der Schule, damit der Sohn den Anschluss schafft. „Was meine Frau geleistet hat, lässt sich nicht hoch genug schätzen“, sagt Wolfgang Seguin. Er hat 1991 eine Firma für Glas- und Gebäudereinigung gegründet, die jetzt seine Söhne Norman (44) und Maik (34) als Geschäftsführer sowie Timmy (27) als Objektleiter führen. Marcel (31) ist Lehrer wie die Mama, die einst als Läuferin auf der Mittelstrecke aktiv war.

Vater „Paule“ genießt mit 72 seinen Ruhestand, wobei das mit der Ruhe nicht wörtlich zu verstehen ist. Natürlich hat er Paul beim Umzug geholfen und versucht, so viele Spiele wie möglich zu sehen. Dass der Sohn eher mit Magdeburg als mit Dresden assoziiert wird, ist vielleicht der einzige Nachteil, einen bekannten Vater zu haben.

Doch der hat nie reingeredet. Zunächst bot Wolfsburg die bessere Perspektive. „Man darf nicht vergessen: Der FCM spielte damals in der vierten Liga, in Wolfsburg waren die Bedingungen im Nachwuchsbereich professioneller“, sagt Paul Seguin. Und jetzt wollte er nicht gleich zwei Klassen tiefer gehen, wobei Dynamo für ihn kein Rückschritt sei, wie er betont: „Ich bin in einer super Mannschaft, die super Fußball spielt. Das kommt mir entgegen.“

Allerdings hat er bisher nur ein paar Minuten in Nürnberg auf seiner Lieblingsposition im zentralen Mittelfeld gespielt, sonst als rechter und sogar einmal linker Verteidiger. In Dresden fühle er sich trotzdem „sauwohl“, meint der Senior. Ob er sein größter Kritiker ist? Die Vermutung liegt nahe, und Wolfgang Seguin weiß, dass er ihn manchmal zu streng bewertet und er deshalb auf Durchzug geschaltet hat. „Wenn er ein wunderbares Spiel gemacht hat, sagte ich: Du hast ganz ordentlich gespielt. Das ging ihm schon mal auf den Wecker.“

Inzwischen hört Paul jedoch ganz genau hin, obwohl er sagt: „Ich bin selbstkritisch genug, und wenn ich schlecht war, gebe ich das offen und ehrlich zu.“ Für ihn ist der Vater nicht in erster Linie ein Ratgeber, sondern „ein ganz normaler Vater“, wie er sagt. „Wenn ich etwas brauche, ist er jederzeit für mich da, genau wie meine Mutter.“

Er hat gelernt, mit dem Namen zu leben, also mit dem Nachnamen, mit dem der einzige Europapokal-Sieg einer DDR-Mannschaft so eng verbunden ist. Den Treffer von Wolfgang Seguin kann man sich im Internet anschauen: Nach Flanke von Axel Tyll schießt er aus spitzem Winkel ins kurze Eck. Er war 51 und zuletzt Spielertrainer bei Preußen Magdeburg in der Verbandsliga, als er mit dem Fußball aufhörte.

Paul hat seine Laufbahn noch vor sich und dafür vom Papa die Laufstärke mitbekommen. „Er sagt immer, ihn musste man nach 90 Minuten abschalten“, meint der Junior und lacht. „Von mir sagt er, dass ich außerdem Fußball spielen kann. Er hält viel von mir, und ich glaube nicht nur, weil er mein Vater ist.“ Der ist nämlich längst genauso stolz auf ihn.

Am Montag lesen Sie das große Interview mit Waldemar und Falk Cierpinski.