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Die Fremde im Familiengrab

Eine italienische Familie bricht mit Traditionen und nimmt ein totes Flüchtlingsmädchen auf. Dafür erntet sie ausschließlich Dank und Anerkennung, auch in Dresden.

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© Oliver Killig

Von Heidrun Hannusch

Abendmahl auf dem Friedhof. Lebensgroß ist das Gemälde von da Vinci in Stein gehauen und bildet den Mittelpunkt einer riesigen Familiengrabanlage auf dem mit Palmen und Pinien bewachsenen Friedhof Bonamorone in Agrigent. Ein paar Meter weiter opulente Fresken, gewaltige Engelsskulpturen, Grabhäuser, die jedes für sich wie eine kleine oder eher größere Kirche ausschauen. Familiengräber vermitteln auch Familienbilder. Manchmal geht es um Reichtum, immer um Tradition, Familientradition. Aber auch die kann manchmal ganz neu geschrieben werden.

Kiflay Wegahta wurde nur 17 Jahre alt. Die Gelardis stehen mit ihren Brüdern in Kontakt.
Kiflay Wegahta wurde nur 17 Jahre alt. Die Gelardis stehen mit ihren Brüdern in Kontakt. © Oliver Killig

Das Grab der Gelardis ist schlichter und doch beeindruckender als all die fast schon obszön wirkende, in Marmorweiß gleißende Pracht ringsherum. Es liegt an einer Gabelung in der Mitte des Friedhofs. Tritt man zwei Schritte zur Seite, ist am Ende des Weges in der Ferne das Meer zu sehen. Irgendwo hinter dem Horizont liegt Lampedusa.

Auf der Grabplatte stehen zwei Fotos, ein Mann, eine Frau. Der Mann war ein Mitglied der Familie, die Frau nicht. Niemand aus der Familie Gelardi hat sie je gesehen, als sie noch lebte, oder auch nur von ihr gewusst. Sie hieß Kiflay Wegahta und stammte aus Eritrea. Das Foto zeigt nur, dass sie jung war und schön. Zunächst irritiert die Zahl auf dem Bild. 47 steht da. Keine Altersangabe. Es ist eine Registrierungsnummer. Sie war als 47. von 368 toten Flüchtlingen geborgen worden, die am 3. Oktober 2013 vor Lampedusa ertranken. Die Gelardis haben das siebzehnjährige Mädchen aufgenommen in ihr Familiengrab.

„Das ist doch ganz normal“, ist einer der ersten Sätze, den Guiseppe Gelardi sagt, ein 74-jähriger Pensionär. Fast schon etwas schroff klingt der Satz. So als verstehe er nicht, dass man Aufhebens macht über die für ihn so selbstverständliche Geste, eine völlig Unbekannte in das Familiengrab aufzunehmen. Amalia Vullo Gelardi, klein und schmal, ist etwas nervös am Anfang. Immer wieder zupft sie ihr Halstuch zurecht, als könnte dessen sicherer Sitz auch ihr mehr Sicherheit geben. Mit Aufmerksamkeit und Interviews hatte die Verwaltungsangestellte nicht gerechnet, als sie sich zu einer Geste entschloss, die gewiss sehr außergewöhnlich ist.

Agrigent liegt an der Westküste Siziliens. Vom Hafen Empedokle gehen die Fähren ab nach Lampedusa. Es ist die kürzeste Seeverbindung zu der Insel, die noch vor ein paar Jahren für nichts stand außer ihrer Schönheit und einem fast afrikanischen Klima, das noch im November zum Baden einlädt. Aber die Touristenfähren sind leer geworden, und auch baden möchte nicht mehr jeder im Mittelmeer. Im Hafen kommen auch die Schiffe an mit den Särgen und mit jenen Flüchtlingen, die gerettet wurden vor Lampedusa. Manche versuchen zu bleiben und sich durchzuschlagen.

Kurz nach dem Treffen mit den Gelardis beginnt es zu regnen, so, wie es manchmal regnet direkt am Meer, unerwartet und unerwartet heftig. Und so plötzlich wie der Regen kommt aus den Straßen ein Dutzend dunkelhäutiger Händler gelaufen mit Schirmen. Und die überraschten Touristen sind dankbar über so vorausschauenden Geschäftssinn, der die Not weniger ausnutzt, als es wahrscheinlich möglich wäre. Ein Schirm kostet 5 Euro.

In Agrigent kann niemand die Augen verschließen vor dem Drama der Flucht der Hunderttausenden, das schon viel länger währt, als es an den deutschen Grenzen sichtbar wurde. Die Gelardis erlebten es noch viel unmittelbarer. Sie haben ein Ferienhaus auf Lampedusa und sind jedes Jahr mehrmals dort. Und das, was sie taten, hat auch mit ihrer fast zwei Jahrzehnte währenden Nähe zu der Tragödie von Lampedusa zu tun.

Als wir im November 2016 von Palermo nach Lampedusa fliegen, ist das Flugzeug nur halb voll, und zwei Drittel der Passagiere tragen Pistolen am Gürtel. Polizei und Militär sind die neuen Touristen. Die Insel ist klein und die Landebahn des Flughafens kurz. Deshalb sinkt der Flieger schon tief, als wir noch über dem Meer sind. Das Wasser ist sehr nah, zu nah, um sich nicht bei jeder Farbnuance, die das Glitzern bricht, zu fragen: „Was schwimmt da?“. Oder wer.

Der Inselführer weiß, was die neuen Besucher sehen möchten, die oft Journalisten sind. Im pittoresken Hafen zeigt er auf ein großes, altes und dunkles Schiff am Ende des Beckens. Da, wo abgesperrt ist und Polizisten streng schauen, wenn man sich nähert. „Damit kamen vor zwei Tagen 700, und jetzt wird es untersucht“, erklärt er. Vielleicht findet man ja Spuren der Schlepper, oder auch nicht. Mitten im Ort liegen übereinandergestapelt gestrandete Flüchtlingsboote. Arabische Schriftzeichen am Bug, abgeblätterte Farbe und Rost, der schon lange da war, bevor sie sich auf den Weg machten. Fragile Fähren, auf die sich nur begibt, wer keine Wahl hat.

Amalia Gelardi erzählt von einer Beobachtung, die sie ganz besonders erschüttert hat. Sie war im Hafen von Lampedusa und sah, wie von einem Schiff der Küstenwache Flüchtlinge geführt wurden, die gerade noch von ihrem untergegangenen Boot gerettet werden konnten. „Viele der Männer trugen Jackett, Krawatte und weißes Hemd. Es war, als glaubten sie, zu einem Fest zu fahren.“

An der Südspitze von Lampedusa, hoch über einem felsigen Strand, steht seit 2008 das „Tor nach Europa“, ein Denkmal für die auf der Flucht vor Armut und Krieg Gestorbenen. Im Juli 2013 warf unweit von hier Papst Franziskus einen Kranz ins Meer. Es war die erste Reise, die Franziskus nach seiner Wahl unternahm. Amalia Gelardi und ihr Mann Guiseppe waren auch da, um die Rede ihres Kirchenoberhauptes zu hören. Hätten sie das nicht getan, hätten sie trotzdem überlegt, wie sie helfen können. Aber vielleicht nicht auf diese ganz spezielle Weise. Da gab es diese Sätze des Papstes: „Wir haben uns an die Leiden anderer gewöhnt. Es betrifft uns nicht, es interessiert uns nicht, es geht uns nichts an.“

Knapp drei Monate nach dem Papst-Besuch geschah vor Lampedusa etwas, das die Welt zwang hinzuschauen. Am 3. Oktober 2013 sank ein paar Kilometer vor der Insel ein Boot mit 550 Flüchtlingen. 368 von ihnen starben. Die Gelardis waren erschüttert wie alle, dachten aber auch pragmatisch. „Letztlich war es eine spontane Idee. Da ging es vor allem darum, dass die Toten in Würde begraben werden“, erklärt Amalia Gelardi. Der Friedhof von Lampedusa war schon lange überfüllt. Die Leichen wurden zunächst nach Agrigent gebracht, wo eine Autopsie vorgenommen und versucht wurde, wenigstens einige der Opfer zu identifizieren.

Die Gelardis wandten sich an die zuständigen Behörden. Sie fragten, ob sie einen Flüchtling aufnehmen könnten, einen toten, in ihr Familiengrab. Bevor sich das Ehepaar entschied, sprach es mit seinen zwei Kindern. „Sie waren sofort dafür“, erzählen sie. Sie wären übrigens nie darauf gekommen, Bedingungen zu stellen. Zum Beispiel, dass es ein Christ sein soll. Alle, die seit etwa 1900 in dem Familiengrab der Gelardis bestattet wurden, waren katholisch. „Die Religion des Toten spielte für uns überhaupt keine Rolle“, sagt Amalia Gelardi. An der Beerdigung des Mädchens aus Eritrea nahmen viele teil, darunter der Bürgermeister von Agrigent.

Die spontane Geste der Gelardis wurde zu einer öffentlichen. Wie war es danach, gab es Kritik, Attacken vielleicht? „Absolut nichts dergleichen“, sagt das Ehepaar. Keine Freunde, keine Bekannten, die nachgefragt hätten, was sie sich dabei gedacht haben. Kein Facebook-Shitstorm. Keine bösen Leserbriefe. Nur Dank und Achtung.

Auf die Frage, ob sie wissen, wer die Tote war, vielleicht Kontakt zu Angehörigen haben, holt Amalia ihr Handy heraus und switcht über mehrere Fotos, die zwei junge Männer zeigen mit Frau und Kind und Offiziellen. Mit der Hilfe eines Journalisten des italienischen Fernsehsenders RAI fanden sie zwei Brüder von Kiflay, die auch auf jenem Boot waren am 3. Oktober 2013, aber überlebten. Heute wohnen sie in Norwegen. Ein Foto zeigt ihre Einbürgerungszeremonie. Einen der zwei trafen die Gelardis. „Wir haben uns immer wieder umarmt“, erzählt Amalia, und wie emotional das gewesen sei. Auch die Kinder der Familie aus Agrigent halten Kontakt zu den Brüdern aus Eritrea – natürlich über Facebook.

Zurück zum Friedhof. Werden nach ein paar Jahrzehnten die Überreste der Verstorbenen aus dem Grab entfernt? Vielleicht auch die von Kiflay? „Nein“, sagt Amalia, „sie bleibt bei uns, für immer“.

Das Ehepaar Gelardi wird am 12. Februar in der Semperoper mit einem Sonderpreis zum „Dresden-Preis“ geehrt. Die Preisverleihung beginnt um 11 Uhr.