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Die freiwillige Spaßbremse

Kanute Tom Liebscher verzichtet seit Januar auf das Wochenend-Bier. Der 22-jährige Dresdner richtet sein Leben voll auf Rio aus.

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© Amelie Jehmlich

Von Alexander Hiller

Vier Grad Lufttemperatur, es regnet unerbittlich. Ein kräftiger Mann steht auf dem Bootssteg in der Kiesgrube Birkwitz-Pratzschwitz, die Stoffmütze tief in die Stirn gezogen, dass nur noch die Spitzen der grauen Haare hervorlugen, die Stoppuhr in der rechten Hand. Irgendwie schafft er es dennoch, seine Hände zu einem Trichter vor dem Mund zu formen. „Ready. Set. Go“, schreit Jens Kühn. Knappe 25 Sekunden später paddeln Tom Liebscher und Karl Weise an ihm vorbei, die beiden aussichtsreichsten männlichen Schützlinge des Kanu-Landestrainers. Es ist das letzte Heimtraining vor dem zweiten nationalen Qualifikationswochenende, nach dem die Nationalmannschaft mit Hinblick auf Olympia in Rio so langsam formiert wird.

Liebscher und Weise schwingen sich aus ihren Booten, schlüpfen in bereitgestellte Badeschlappen auf dem Steg, ziehen sich in ihren Autos für den Interview-Termin um. Kurze Zwischenfrage an Jens Kühn. Wie ist denn die Wassertemperatur? Der Trainer öffnet einen klitzekleinen Spalt zwischen seinem Daumen und dem Zeigefinger. „So“. Alles klar. Sehr kalt.

Kleiner Bonus für Quotenplatz

„Nee, richtig Spaß macht das Training bei solchem Wetter nicht“, sagt Tom Liebscher. Der 22-jährige Sprint-Spezialist hat im Vorjahr mit Platz sechs im Kajak-Zweier über 200 m (mit Ronald Rauhe/34) einen Quotenplatz für den Deutschen Kanu-Verband (DKV) geholt und mithin einen kleinen Bonus im nationalen Einer-Ausscheid über 200 m und 500 m. „Er muss unter die besten vier kommen, dann ist er im Nationalteam. Das schafft er“, sagt Jens Kühne. Kein Zweifel. Liebscher liegt nach der ersten Quali-Runde auf Rang drei.

„Das war nicht optimal. Aber das Wohlfühlen hat noch gefehlt, das kommt jetzt langsam“, sagt Liebscher. Die 2000 bis 3 000 Trainingskilometer im Winter haben zwar die Grundlagenausdauer gefördert, der Spritzigkeit war das natürlich nicht dienlich. Die muss antrainiert werden. „Das können manche besser“, weiß er. Doch der junge Mann, der mit gerade einmal 18 Jahren schon Ersatzmann bei den Olympischen Spielen 2012 in London war, sieht sich selbst voll im Soll. „In der Ausdauer habe ich noch mal zugelegt. Jetzt müssen wir Spitzen setzen, um uns zu qualifizieren. Und in den letzten drei Monaten vor Rio arbeiten wir an den hohen Geschwindigkeiten“, erklärt der Weltmeister von 2013. Am Zweier Rauhe/Liebscher bestehe auch nach dem letztlich enttäuschenden sechsten Platz bei der WM 2015 intern kein Zweifel.

Vielleicht hat dieser Rückschlag für die amtierenden Europameister letztlich sogar etwas Positives bewirkt. „Wir haben uns schon Gedanken über die beiden letzten Jahre gemacht, was wir besser machen können und müssen“, erzählt Liebscher. „Wir sind bewusster an jede Einheit herangegangen, haben uns teilweise auch richtig die Kante gegeben. Wir haben geschaut, was man in puncto Ernährung und Regeneration noch optimieren kann“, erklärt der Vorzeige-Athlet des Kanuclubs Dresden.

Der Sachse, der mit seinen Kumpels durchaus gerne mal auf Partys geht, verzichtet seit Januar komplett auf Bier. „Wenn man pro Wochenende ein, zwei Flaschen trinkt, das summiert sich schon. Und das muss nicht sein. Diese Chance auf Olympia“, sagt Tom Liebscher, „die bekommt man nur ein-, zweimal im Leben“, betont er. Irgendwann im Trainingslager hat er den Verzicht beschlossen. Auch, wenn er dafür von den Kumpels aus seiner Trainingsgruppe gern mal freundlich als Spaßbremse vorgeführt wird. „Klar lachen die mich aus und stellen mir mal eine Flasche vor die Nase. Aber die wissen ja, wofür ich das mache“, sagt der Bier-Abwähler.

Dem Ziel Olympia ordnet Liebscher offenbar vieles unter. „Ich will in Rio durchs Ziel gefahren sein, alles gegeben haben, in den Spiegel gucken können und sagen: Okay, das war alles, was ich konnte. Egal, ob ich Vierter, Letzter oder Erster werde. Solche Tage wie heute sind dafür entscheidend. Bei 35 Grad kann jeder trainieren“, sagt Liebscher, während der Regen auf das Autodach trommelt. Ihn treibt nach wie vor auch seine Ersatzrolle von London an. Da war Liebscher gerade mal 18 Jahre jung, dreifacher Junioren-Weltmeister – und schon voller Ehrgeiz.

Die Ersatzrolle hat er nie als die Auszeichnung empfunden, für die der Deutsche Kanu-Verband diese Nominierung wohl auch gehalten hat. „Ich war irgendwie dabei, aber nur daneben. Als Olympia-Starter fühle ich mich nach wie vor noch nicht“, blickt der 1,89 m große Modellathlet zurück. Das Gespräch ist damit beendet. Liebscher zieht sich die Laufschuhe an – und verschwindet bei strömendem Regen hinter der nächsten Kurve. Zweimal locker um die Kiesgrube joggen, sieben Kilometer. Er weiß, wofür er das tut.