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Die Flüchtlinge aus dem Pflegeheim

Wegen der Entschärfung einer Fliegerbombe müssen etwa 70 ältere Menschen in eine Notunterkunft am Flughafen gebracht werden. Die ist eigentlich für ganz andere Bewohner gedacht.

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© Anja Schneider

Anna Hoben

Gegen 18 Uhr kommt der erste Bus an. Menschen mit Rollatoren steigen aus, sie werden von DRK-Mitarbeitern gestützt, viele haben wärmende Decken um die Schultern gelegt. Es ist einer der kältesten Tage des neuen Jahres, minus sieben Grad zeigt die Wetter-App an. Die Menschen, viele Frauen und einige Männer, sind Bewohner des St. Michael-Pflegeheimes in der Friedrichstadt. Sie sind hier, weil in der Nähe ihres Zuhauses eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurde, vor 71 Jahren über Dresden abgeworfen.

Die noch mobilen alten Menschen waren am Abend mit einem Bus der DVB am Heim abgeholt worden.
Die noch mobilen alten Menschen waren am Abend mit einem Bus der DVB am Heim abgeholt worden. © Anja Schneider
Betreut wurden die Heimbewohner von Mitarbeitern des DRK.
Betreut wurden die Heimbewohner von Mitarbeitern des DRK. © Anja Schneider
So richtig wohl fühlten sich die aus ihrem Alltag gerissenen Menschen in den Hallen am Flughafen nicht. Am späten Abend konnten sie wieder zurück gebracht werden.
So richtig wohl fühlten sich die aus ihrem Alltag gerissenen Menschen in den Hallen am Flughafen nicht. Am späten Abend konnten sie wieder zurück gebracht werden. © Anja Schneider

Sie alle waren damals schon auf der Welt, sie sind Zeitzeugen des Krieges. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sie jetzt an einem Ort gelandet sind, der für heutige Kriegsflüchtlinge aus fernen Ländern hergerichtet worden ist.

Seit sechs Wochen sind die Leichtbauhallen am Flughafen in Klotzsche bezugsfertig. Bisher sind jedoch noch keine Flüchtlinge dort eingezogen. Und jetzt? Viele der Menschen, die an diesem Abend ankommen, verstehen nicht, warum sie überhaupt hier sind. Viele von ihnen sind dement.

„Die Hallen waren Teil des Evakuierungsplans für Silvester“, sagt Kai Kranich, Sprecher des sächsischen DRK-Landesverbandes. Damals waren Ausschreitungen vor Asylunterkünften in Dresden befürchtet worden. Passiert ist glücklicherweise nichts. Aber auch wenn in anderen Erstaufnahmeeinrichtungen die Heizung ausfällt, könnten Flüchtlinge an den Flughafen umziehen. Zwölf Wohnhallen stehen dort, eine Speisehalle und zwei Sanitärhallen. Platz ist für bis zu 600 Menschen. Im Notfall sind die Hallen innerhalb kürzester Zeit bezugsbereit.

So wie jetzt. Knapp 70 ältere Menschen sollen an diesem Abend hergebracht werden. Um viertel nach sechs sitzen die ersten in den Zimmern. Die karge Ausstattung: ein Tisch, ein paar Stühle, jeweils zwei Stockbetten. „Ich will nach Hause“, hört man, wenn man durch die Gänge geht. „Ich friere.“ Dabei bläst die Heizung auf Hochtouren. Doch die Bewohner sind verwirrt, manche gar kurz vor dem Weinen. „Wo ist mein Mann?“, fragt eine Frau immer wieder. Eine Mitarbeiterin aus dem Heim streichelt zärtlich ihren Arm. „Der kommt mit dem nächsten Bus“, sagt sie. Und redet der Frau gut zu. „Wir haben schon so vieles gemeistert, das schaffen wir auch noch.“

20 DRK-Mitarbeiter wuseln umher, soziale Betreuer, Logistiker, medizinisches Personal. Für die Evakuierung ist der DRK-Kreisverband zuständig. Der Landesverband, so Sprecher Kai Kranich, habe dabei zu bedenken gegeben, dass die Notunterkunft am Flughafen frei stehe. „Bevor irgendwelche Turnhallen bezogen werden.“ Die Idee fanden alle gut. Falls die Menschen hier schlafen müssen, was am frühen Abend noch unklar ist, wird etwa die Hälfte von ihnen zur Nachtschicht bleiben. Das Frühstück würde dann die Caritas liefern.

Die DRK-Mitarbeiterin Katrin Balkanski geht herum und füllt mit jedem Bewohner eine sogenannte Begleitkarte aus. Name, Geburtsdatum, Adresse, „Ort der Katastrophe“. „Damit wir Sie nicht verwechseln“, sagt Balkanski. Auch auf den Jacken der bisher Angekommenen kleben deren Nachnamen, aufgeschrieben auf Krepp-Klebeband. Nicht jeder weiß seinen Geburtstag. „Aber immerhin“, sagt eine gebrechliche, schmale Frau mit weißem Haar, „bin ich schon 93“.

Manche Betreuer versuchen die Menschen mit Humor aufzuheitern. „Es ist ein bisschen wie Zelten, wie früher in der Jugendherberge“, sagt eine junge Frau, „waren Sie früher mal in der Jugendherberge?“ Die Angesprochene schüttelt den Kopf. „Das kann ich nicht verstehen.“

Sie hoffe sehr, dass es heute wieder zurück nach Hause gehe, sagt Gisela Wilhelm. „Da ist mein gemütliches Bett, da kann ich mich richtig waschen.“ Mit ihren 75 Jahren ist Wilhelm eine der Jüngeren in der Notunterkunft. Schlafkleidung habe sie nicht mitgenommen, nur eine Zahnbürste und Zahnpasta. „Ich habe mir zwar Kuchen gekauft, aber den esse ich hier nicht.“ Später soll es ja auch erst einmal Abendbrot geben. Es war schon alles vorbereitet gewesen in der Heimküche, als die Mitarbeiter von der Evakuierung erfuhren. Kurzerhand packten sie die kalten Platten ein. Jetzt stehen sie im Speisesaal der Notunterkunft, zusammen mit Salzstangen, Saft und Schokolade.

19 Uhr. Die Pflegedienstleiterin hält ihr Smartphone ans Ohr. Gerade ist ein Auto angekommen, der Kofferraum voller Medikamente. „Hier sind einige Diabetiker, die schon vor einer Stunde eine Spritze hätten bekommen sollen“, sagt die Frau ins Telefon. Kurz darauf treffen mehrere Rettungswagen an mit Bewohnern, die nur im Liegen transportiert werden können. Nach einer Weile folgt eine Lieferung mit zusammengeklappten Rollstühlen.

Die Herausforderung, sagt DRK-Sprecher Kranich, sei ähnlich wie bei den Flüchtlingen, die gerade in Deutschland ankommen. Es geht um Menschen, die gerade nicht recht wissen, wo sie sind. Die vieles von dem, was man ihnen sagt, nicht verstehen. Und die letztendlich doch dankbar sind, dass sie einen warmen Ort haben, an dem sich jemand um sie kümmert.