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Die extrem radikale Mitte von der Neustadt

Im Oktober vor 20 Jahren ging eine Jugendinitiative auseinander, die sich 1989 gefunden hatte. Eine Zittauer Wende-Geschichte zum 26. Tag der Einheit.

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© Mario Heinke

Von Mario Heinke

Schlendert Dirk Bühler über die Neustadt, wandert sein Blick immer zuerst zum Haus Nr. 17. Das Eckgebäude am Theatergäßchen ist Teil seiner Jugend. In der sogenannten „Wohnung“, einem beliebten Jugendtreff, verbrachte der Zittauer viel Zeit und so manche Nacht. Die „Wohnung“ im heruntergekommenen Mietshaus auf dem damaligen August-Bebel-Platz war in aller Munde und blieb bis zur Übergabe im Oktober 1996 ein Begriff für viele Zittauer. Der Treffpunkt war fast immer geöffnet und besonders an den Wochenenden voller Zigarettenrauch und junger Menschen. Bis zu 100 Gäste drängten sich während den Partys in den vier Räumen der Wohnung.

Auf die Marlboro-Wand in der Wohnung waren die Jugendlichen besonders stolz.
Auf die Marlboro-Wand in der Wohnung waren die Jugendlichen besonders stolz. © privat
Demonstration gegen die Schließung der Jugenddiskothek „Grüner Ring“.
Demonstration gegen die Schließung der Jugenddiskothek „Grüner Ring“. © privat
Die Bar aus dem „Grünen Ring“.
Die Bar aus dem „Grünen Ring“. © privat

Besonders stolz waren die Jugendlichen auf ihr Marlboro-Plakat. Es füllte fast die ganze Wand in einem Raum aus und stand für ein Gefühl von unbegrenzter Freiheit, das sich nach der politischen Wende in der untergehenden DDR breitmachte. Die Bar aus dem ehemaligen „Grünen Ring“, alte Sessel und Sofas, ein Fernseher, ein Billardtisch, eine Dartscheibe, eine Campingtoilette und das Marlboro-Plakat genügten, um aus der Bruchbude einen beliebten Treffpunkt zu machen.

Im Wende-Chaos war es der „Jugendinitiative Unabhängiges Jugendzentrum“ (JUJ) gelungen, die leer stehende Wohnung zu mieten und als eine Art Jugendzentrums-Ersatz zu betreiben, weil sich kein anderes geeignetes Objekt fand. „Als wir im November 1990 einzogen, parkte abends kein einziges Auto auf der Neustadt“, erinnert sich Dirk Bühler an die trostlose Kulisse auf dem Platz. „Gestern bekam die JUJ vom Jugendamtsleiter und Vertretern der Gebäudewirtschaft den Mietvertrag für die Wohnung überreicht, die momentan von 40 Mädchen und Jungen umgebaut wird“, schrieb die SZ damals. Zeit zum Renovieren hatten viele Jugendliche zur Genüge. Sie waren arbeitslos, auf Lehrstellensuche oder auf Kurzarbeit Null. Bühler gehörte mit Lutz Günther und Christoph Kunze zu den Gründungsmitgliedern der JUJ und saß zuvor auch schon am „Runden Tisch der Jugend“. Bühler und Kunze kandidierten sogar zur ersten freien Kommunalwahl in der DDR am 6. Mai 1990. Die erforderlichen Unterschriften, um zur Wahl zugelassen zu werden, hatten sie schnell zusammen. Knapp verfehlten sie den Einzug in den Stadtrat. Nur 32 Stimmen fehlten. Der verfehlte Einzug ins Stadtparlament hinderte die Jugendinitiative nicht daran, sich in die Kommunalpolitik einzumischen und an die Belange der Jugend zu erinnern. Aus der JUJ wurde ein eingetragener Verein, der zeitweise über 50 Mitglieder hatte. Auf der Mitgliederliste finden sich die Namen vieler bekannter Zittauer.

Mit Flaschenbier, in Kästen bis unter die Zimmerdecke gestapelt, und Sonado Wermut, „den wir massenhaft bei Massa gekauft haben“, feierten die Jugendlichen in den folgenden Jahren regelmäßige Partys im Mietshaus auf der Neustadt. Video- und Spielabende, Themen-Partys in der ofenbeheizten Wohnung und gemeinsame Ausflüge bis an die Ostsee bestimmten das Leben der Protagonisten, die heute alle die 40 überschritten haben.

Eine Anzeige wegen Ruhestörung führte dazu, dass die alarmierten Polizisten von den Feiernden kurzerhand in die durch die Wohnung ziehende Polonaise eingereiht wurden, während ihr Vorgesetzter im Treppenhaus mit dem Vereinschef verhandelte. Der Polizeichef habe nicht schlecht gestaunt, als die Tür zum Treppenhaus aufflog und er seine Kollegen sah, die fröhlich singend in der Schlange tanzten, erzählt Bühler. Die „Wohnung“ stellte auch eine eigene Fußballmannschaft. „ Extrem radikale Mitte“ (ERM) nannten sich die Freizeitkicker. Nicht links und nicht rechts, sondern in der Mitte verortete sich die JUJ auch politisch. Diese Einstellung führte dazu, dass sowohl politisch links als auch rechts eingestellte Zittauer in der Wohnung ein und aus gingen. „Wenn sie sich benommen haben, war das kein Problem“, so der Zittauer. Die Idee, eine Jugendinitiative zu gründen, entstand bereits 1989. Als bekannt wurde, dass der „Grüne Ring“ im ehemaligen Hotel „Stadt Görlitz“, schließen sollte, demonstrierten die Zittauer spontan vor dem Haus und belagerten den Stadtring. Das Lokal war zur Wendezeit die einzig verbliebene Jugenddiskothek weit und breit. Der Verkehr kam zum Erliegen, die alarmierte Volkspolizei nahm einen Demonstranten fest. Jürgen Kloß, zum damaligen Zeitpunkt Bürgermeisterkandidat der CDU, solidarisierte sich mit den Demonstranten und sorgte dafür, dass der Festgenommene wieder freigelassen wurde, erinnert sich Bühler. Später lud die JUJ den Bürgermeister und andere Kommunalpolitiker zu Gesprächsrunden während der Partys ein. „Das war ein völlig neues Format“, sagt Bühler und grinst. Die politische Diskussion in der Disco interessierte Hunderte Zittauer. Für die erste Veranstaltung mietete die JUJ das ehemalige „Haus der Pioniere“ (Villa). Später ging sie in die Aula im Beruflichen Schulzentrum, weil dort mehr Leute nach den heißen Scheiben der „Musikboutique“ tanzen konnten. Lutz Günther, heute MDR-Mitarbeiter, sammelte beim Talk mit lokalen Größen seine ersten Moderationserfahrungen. Im Mittelpunkt stand immer die Frage: „Wie geht es weiter mit der Jugend in Zittau?“ Beliebt waren auch die Spielrunden mit kleinen Preisen aus dem Westen. Der Gewinner einer Langspielplatte aus Westberlin soll vor Freude geweint haben. Die Reise von acht JUJ-Vertretern mit einem geliehenen Barkas in die Partnerstadt Villingen-Schwennigen endete nach einem Motorschaden kurz vor dem Ziel. Die Reisenden kauften sich vor Ort kurz entschlossen einen alten Fiat für 800 D-Mark und setzten die Tour fort. Einige Jahre später, als das Auto wegen der defekten Kupplung den Geist aufgab, stand es monatelang an der ehemaligen Jugendzahnklinik, bevor sich ein Entsorger fand. Der Schlüssel lag im Handschuhfach, die Türen standen offen. Wenn es regnete, setzten sich manchmal Passanten in das Auto, bis der Schauer vorüber war.

Mitte der 1990er Jahre begann die Sanierung der ersten Bürgerhäuser auf der Neustadt. Die Nummer 17 erwarb ein Immobilienhai aus Düsseldorf. Er wollte mit einer Vielzahl von Immobilien in der Region am ganz großen Rad drehen, erzählt ein Zittauer. Als dem Glücksritter das Geld ausging, konnte das Ehepaar Mauke die Immobilie kaufen und betreibt seither das Schuhgeschäft, die Orthopädiewerkstatt und Ferienwohnungen.