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Die Alten sind nicht mehr die alten

Kukident-Generation ist Schnee von gestern. Doch die Gesellschaft ignoriert die veränderte Altersrealität nahezu vollständig.

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Von Bettina Ruczynski

Ab 50 geht’s bergab – so hieß es früher schicksalsergeben. Das stimmt nicht mehr. Es geht sogar steil bergauf, nicht nur für wandernde Rentner an den Alpenpässen. Den Alten geht es besser als je zuvor in der Geschichte. Sie halten die Cafés am Leben, in denen das Heißgetränk nicht in Wegschmeißbechern, sondern in Porzellantassen serviert wird. Auch jene Busunternehmer, die auf Kurzreisen spezialisiert sind, könnten ohne sie dichtmachen. Und die Alten werden immer mehr: Ein Fünftel unserer Mitmenschen ist bereits über 65. Bald wird es ein Viertel sein. Überraschend ist allein die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaft dieser Wirklichkeit nicht stellt. Schlagzeilenträchtig wird stattdessen mal ein Methusalemkomplott durchs mediale Dorf getrieben, ein anderes Mal davor gewarnt, dass Deutschland sich abschafft oder wir alle Opfer eines furchtbaren Generationenkriegs werden. Der veränderten Altersrealität wird dieses hysterische Geschrei nicht gerecht. Sie findet weder in der Politik noch in den Medien oder in den Konsumangeboten für junge Alte oder alte Alte statt.

Es ist nahezu kurios, dass eine stark wachsende Konsumentengemeinde mit eindrucksvoller Wirtschaftsmacht in einer abgekoppelten Parallelwelt zu existieren scheint. Doch die heute 80-Jährigen, sagt die Forschung, sind so gesund und fit im Kopf, wie es ihre Großeltern mit 60 nicht mehr waren. Aber wo sind sie denn, die flotten Klamotten, in denen 75-Jährige, die sich wie 55 fühlen, nicht aussehen wie ihre eigenen Großeltern, oder, schlimmer, wie törichte Berufsjugendliche, die vor der eigenen Vergänglichkeit fliehen?

Vom geistig-ethischen Potenzial dieser großen, an Erfahrung reichen Bevölkerungsgruppe mal ganz abgesehen. Sie kommt im gesellschaftlichen Diskurs nicht vor, weil Alter noch immer mit einem Makel behaftet ist – Helmut Schmidt hin, Joachim Gauck her. Sobald eine Fernsehmoderatorin ihre Falten nicht mehr wirksam verschminken kann, wird sie vom Bildschirm genommen.

„Letztlich wird es auf das Selbstbild einer Gesellschaft ankommen: Wo das Alter positiv gesehen wird, bleiben Kreativität und Innovationsfähigkeit erhalten“, betont die Journalistin Margaret Heckel. Doch die „Idee unbegrenzter Jugendlichkeit ist zum gesellschaftlichen Grundkodex geworden und löst den klassischen Reifeprozess ab“, sagt Titus Dittmann. Er brachte einst das Surfbrett und eine körperbetonte Jugendkultur nach Deutschland. Der Mediziner Christoph Bamberger meint: „Alt werden ohne zu Altern – dieser von der Kosmetik- und Anti-Aging-Industrie geschürte Wunsch ist eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum gesunden und glücklichen Altern.“

Die 22,3 Millionen Mitbürger, die demnächst älter als 65 sein werden, haben beste Chancen, ein, zwei oder sogar drei weitere Jahrzehnte in relativ guter Verfassung zu erleben. Wir werden immer älter, und der eigentliche Alterungsprozess, der mit Gebrechlichkeit, Siechtum und Pflegebedürftigkeit einhergehen kann, setzt immer später ein. Wenn die neuen Rentner in den sogenannten Ruhestand gehen, sind sie in der Regel leidlich gesund, lebensfroh, neugierig auf Neues in Natur und Technik und meist frei von materieller Not. Sie sind mit sich im Reinen und haben Jahre vor sich, die sinnvoll und möglichst schön gelebt werden wollen. Jahre, die Raum bieten können für persönliches Wachstum und vielleicht auch für den lange ersehnten Neustart. Die neuen Alten bemühen sich um Glück und Gelassenheit, Weisheit, Witz und Würde. Sie sind die jüngsten und werden gleichzeitig die ältesten Alten sein, die es in Mitteleuropa bisher je gab.

Vor hundert Jahren wurden Männer im Schnitt 47 und Frauen 51 Jahre alt. Heute haben Männer eine Lebenserwartung von 77 Jahren, sechs Jahre mehr sind Frauen vergönnt. Die Ursachen dieser gravierenden Veränderungen sind die Abwesenheit von harter körperlicher Arbeit, wie sie unsere Ahnen auf Feldern, in Fabriken und unter Tage verrichten mussten, der medizinische Fortschritt und die Verbesserung unserer Lebensumstände samt Ernährung. Die geschenkte Zeit – jene ein bis drei Dekaden, die es so zuvor noch nie gab – können diejenigen am besten und längsten genießen, die in einer stabilen Beziehung leben, über vielseitige Interessen verfügen, sich regelmäßig schweißtreibend bewegen und auf ihr Körpergewicht achten. Auch ein positives Selbstbild hilft beim Altern. Wissenschaftler behaupten: Wer sich selbst mag, fürsorglich mit sich umgeht und mit Humor und Optimismus auf die Tücken des Lebens reagiert, wer offen bleibt für neue Erfahrungen und Weltsichten, der wirkt jünger und kann seine Lebenserwartung um sieben Jahre steigern. Keine gesundheitsfördernde Maßnahme ist so erfolgreich und preiswert wie diese.

„Nichts wird unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und die Art, wie wir zusammenleben, in den nächsten zwei Jahrzehnten so sehr revolutionieren wie die demografischen Veränderungen in Deutschland. Dass wir dabei viele Probleme bewältigen müssen, ist offensichtlich“, konstatiert Margaret Heckel in ihrem lesenswerten Buch: „Die Midlife-Boomer. Warum es nie spannender war, älter zu werden.“

Selbst die deutsche Werbebranche hat es inzwischen begriffen: Die Fixierung auf die Zielgruppe der 14- bis 49-jährigen Fernsehzuschauer und die damit verbundene Ausgrenzung der sogenannten „Kukident-Generation“ ist überholt und „Schnee von gestern“, so Volker Nickel, Sprecher des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft. Das lässt hoffen. „Die Alten sind ja nicht mehr die alten“, sagt Nickel. Da sitzt nicht die graue Oma mit grauem Dutt und grauer Katze im grauen Ohrensessel und graut dem Ende entgegen. Trotzdem hält sich das Klischee, dass ein „Altern in Würde“ mit dem Rückzug aus der produktiven Gesellschaft einherzugehen hat.

Altern findet im Kopf statt – auch im Kopf derer, die heute jung sind, den Zeitgeist prägen und den Jugendwahn befeuern.

Wir brauchen nicht nur flotte Klamotten, sondern vor allem ein neues, differenziertes Bild vom Alter. „Die Frage des Alters ist ganz stark eine Kopfsache“, findet auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen. „Wenn es der Gesellschaft nicht gelingt, kreativ und proaktiv auf die Verlängerung der Lebensspanne einzugehen, verdammen wir die Älteren der Zukunft dazu, ein Leben wie das der Älteren heute zu führen – und das, obwohl sie gesünder, mental agiler und zu weit mehr fähig sind als die jetzigen Alten“, warnt die Wissenschaftlerin Laura Carstensen.

Und die jetzigen Alten sind schon zu allerhand fähig! Man schaue sich nur die verwitterten Herren von den „Rolling Stones“ an, die im Juli den 50.Geburtstag ihrer Band feiern und gemeinsam knapp 280Jahre auf den durchtrainierten Buckeln haben. Bei den Puhdys („Alt wie ein Baum“) und der ungarischen Kult-Band Omega dürften es kaum weniger sein. Bruce Springsteen wird 63, niemand käme auf die Idee, dem Boss Altersteilzeit oder Vorruhestand anzubieten. Auch die Herren Armin Mueller-Stahl, Mario Adorf und Götz George werden mit dem Alter immer besser, wie guter Rotwein. Damen wie Hannelore Elsner, Annekathrin Bürger oder Barbra Streisand natürlich auch. Was würde uns fehlen, wenn sie sich plötzlich „altersgerecht“ verhielten, grau und unsichtbar würden, eins mit Katze, Wand und Ohrensessel?

Was den Alten hierzulande an Möglichkeiten und Selbstbewusstsein fehlt, entwickelt sich eindrucksvoll in den USA. Dort starten sie – oft nicht ganz freiwillig, sondern als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise – ihre „Encore-Karrieren“, was so viel heißt wie „Zugabe“. In Amerika gründen die neuen Alten fast doppelt so oft erfolgreiche Firmen wie die Mittdreißiger. Und das auch in der innovationslüsternen IT-Branche, die keineswegs nur von pickligen Jung-Millionären und den Mark Zuckerbergs dieser Welt dominiert wird. Sondern auch von Menschen jenseits der 50, die laut Vorurteil eigentlich nichts mehr mit moderner Technik anfangen können. Dabei sind gerade sie die am schnellsten wachsende Gemeinde im Netz und warten sehnsüchtig auf das nächste Gerät mit einem angebissenen Apfel drauf.

Mit dem Klischee von alten Gehirnen, in denen leise der Kalk rieselt, sollte endlich Schluss sein. Zugegeben: nicht nur der Bizeps, auch das Gehirn der Alten muss trainiert werden, bis es so richtig anstrengend wird. Kreuzworträtsel und Sudoku bringen leider wenig. Sprachenlernen hilft. Wollte man nicht schon längst sein Englisch aufpolieren und Spanisch lernen für den nächsten Mallorca-Urlaub? Die Volkshochschule bietet Kurse ohne Altersbeschränkung. Auch Schachspielen, Lesen und das Klappern am Computer hilft dem Hirn auf die Sprünge. Gesellschaftstanz und Golf trainieren nicht nur den Körper, sondern auch den Grips. Weil dabei Schnelligkeit, Entscheidungsfreude, taktisches Denken und Koordinationsfähigkeit gefragt sind. Die funktionieren nur gut mit gut funktionierendem Hirn.

Jedem Alten ist klar, dass das Alter sich mit 65 anders anfühlt als mit 89. Nur uns und der medialen Öffentlichkeit ist das selten bewusst. Da landen alle in einem Topf, kriegen das Etikett „alt“ angepappt und fertig. Dabei hat die 65-Jährige keinen Krieg erlebt und nie gehungert. Der 89-Jährige hat den Kessel von Stalingrad nur knapp überlebt; Hungern war sein geringstes Problem. Unterschiedliche Erfahrungen prägen unterschiedlich. Differenzieren ist angesagt. Die beiden trennen 24 Jahre, das sind Welten! Niemand käme auf die Idee, eine Zweijährige mit einem 26-Jährigen in einen gemeinsamen soziologisch-demografischen Topf zu stecken.

„Altern ist nichts für Feiglinge!“ Die forsche Hollywood-Diva Mae West hat noch immer recht: Aus den neuen Alten werden alte Alte. Demenzerkrankungen und Pflegebedürftigkeit nehmen gegen Ende der achten Lebensdekade zu. Dass die Runzeln mehr und die Teilhabe an der Welt weniger werden, ist unvermeidbar. Die Hochbetagten sind meist weiblich, arm und einsam. Ein paar staatliche Münzen für eine Pflegeversicherung ändern an diesem Zustand überhaupt nichts.

Aus Furcht vor einem Heimdasein harren die alten Frauen in ihren Wohnungen aus, bis es gar nicht mehr geht. Alternative Wohn- und Pflegeprojekte für Alte gibt es selten und in dörflichen Regionen gar nicht. Warum nicht? Wo bleiben die sozialen, gesellschaftlichen und architektonischen Visionen für eine Welt, die von sehr vielen Hochbetagten bevölkert sein wird?

Denn nicht nur die fitten Alten – auch die gebrechlichen Greise werden immer mehr. Und wir werden immer ratloser. Was wird, wenn Oma rund um die Uhr Hilfe braucht?

„Seriöse Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass die genetische Ausstattung des Menschen ihm eine Lebenszeit von maximal 120 Jahren zugesteht. Damit würde die Berufszeit zu einer vergleichsweise kurzen Episode in seiner Biografie werden. Was das sozial, politisch und wirtschaftlich bedeutet, ist noch unbedacht“, mahnt der Journalist Sven Kuntze in seinem Buch „Altern wie ein Gentleman“. Er stellt fest: „Alte Menschen benötigen das Verständnis von Mitwissern.“ Wir müssen die Mitwisser sein. Schließlich werden wir früher oder später selbst diejenigen sein, die auf Mitwisser angewiesen sind.