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„Die AfD ist keine Ostpartei“

Der frühere Linksfraktionschef Gregor Gysi über die Fehler von Sahra Wagenknecht, nachhaltige DDR-Folgen und eine mögliche linke Annäherung an die CDU.

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© imago/christian schroedter

Herr Gysi, kaum haben Sie sich aus der ersten Reihe zurückgezogen, schon fährt Ihre Partei miese Ergebnisse ein. Was lief denn ohne Sie falsch?

Ich bin sicher, dass meine Partei in der Gesellschaft der Bundesrepublik wichtig ist. Aber die Linke braucht in bestimmten Fragen einheitliche Positionen, sonst verliert sie an beiden Seiten. Also: Entweder man sagt, wir müssen die Flüchtlinge sehr gut integrieren und zugleich ernsthaft anfangen, mit anderen Regierungen zusammen die großen Probleme der Welt zu lösen. Sonst wird das Ganze unbeherrschbar. Oder man geht den Weg der Obergrenzen. Und wenn eine Partei auf der einen Seite klar sagt, wir sind für die Überwindung der Fluchtursachen, aber auf der anderen Seite einige ihrer herausragenden Politiker sagen, wir sind doch für Obergrenzen, dann wählen einen nicht die, die für Obergrenzen sind, und man verliert auch bei denen, die dagegen sind. Und das war ein Fehler.

Sie sprechen über ihre Nachfolgerin im Amt, Sahra Wagenknecht. Die hat über Kapazitätsgrenzen und Grenzen der Aufnahmebereitschaft geredet.

Hier geht es nicht um Personen, sondern um die Position. Es gibt unwichtige Fragen, da kann es auch unterschiedliche Positionen geben. Aber in einer solch zentralen Frage muss die Partei klar berechenbar sein. Sonst verliert sie eben auf beiden Seiten. Das ist wirklich ein Problem.

Zumal ja nicht irgendjemand in andere Richtung geblinkt hat, sondern immerhin Frau Wagenknecht.

Wenn bedeutende Persönlichkeiten bestimmte Positionen vertreten, hat das eben auch andere Folgen, als wenn das andere machen. Wenn man den Weg der Humanität, des Grundrechts auf Asyl geht, dann kann es schon sein, dass man bestimmte WählerInnen verliert. Aber dafür gewinnt man auch andere. Wenn man den anderen Weg geht, kann man vielleicht auch WählerInnen gewinnen. Das wäre dann zwar nicht mein Weg, aber wenn man beides anbietet, dann verliert man auf beiden Seiten. In solchen Fragen muss man eine klare einheitliche Position haben. Und wenn dann herausragende Persönlichkeiten wie Katja Kipping und Sahra Wagenknecht unterschiedliche Positionen beziehen, dann wird es eben schwierig.

Oskar Lafontaine hat bemängelt, dass die Bundesregierung nicht genügend für soziale Ausgleichsmaßnahmen gesorgt hat. Stimmen Sie dem zu?

Ja. Von Anfang an habe ich gesagt, wir müssen gerade den armen Schichten in unserer Bevölkerung richtig fair bezahlte Jobs auch im Zusammenhang mit Flüchtlingen anbieten, damit das Ganze für sie zu einem Gewinn wird und nicht ein Verlustgefühl entsteht, das dann die AfD wiederum missbraucht.

Sie kennen die Ostwähler wie kaum ein zweiter. Ist die Angst vor Fremden, der Frust, die Hoffnung auf die einfache Lösung immer noch auch Folge der Sozialisierung in der DDR, oder hat es damit gar nichts mehr zu tun?

Es gibt verschiedene Ursachen. Das eine ist die demografische Ursache. Die Jugend hat ja den Osten weitgehend verlassen müssen, weil sie keine Ausbildungs- und keine Arbeitschancen hatte. Dadurch haben wir eine andere Zusammensetzung der Bevölkerung. Die Jugend ist natürlich schon viel europäischer, internationaler aufgewachsen, hat eine andere Beziehung auch zu Flüchtlingen. Es gibt auch junge Rechtsextreme, das weiß ich. Ich meine den Durchschnitt. Eine ältere Bevölkerung reagiert ängstlicher. Es sind ja auch nicht die ganz Armen, sondern es sind die, die ein bisschen was besitzen und Angst haben, das zu verlieren. Wir haben zu wenig getan, in ganz Deutschland abstrakte Ängste abzubauen. Dort, wo Menschen muslimischen Glaubens leben, wird ja nicht rechtsextrem gewählt, nur dort, wo es sie gar nicht gibt. Das ist das eine.

Und das andere?

Das hat ein bisschen was mit dem Osten insofern zu tun, als die DDR nun mal eine geschlossene Gesellschaft war. Dann sollten wir Deutsche werden, dann sollten wir gleich noch EuropäerInnen werden, dann sollten wir noch WeltbürgerInnen werden, das überfordert in gewisser Hinsicht auch.

Die Linke hat in Sachsen-Anhalt 29 000 Stimmen an die AfD verloren. Bekommt die AfD jetzt das Image als neue Ostpartei, oder ist die Protestkarawane einfach nur weiter gezogen?

Die AfD ist keine Ost-Partei. Sie hat ja in den beiden Landtagswahlen im Westen einmal über zehn und einmal über 15 Prozent bekommen. Also die verstehen sich schon als bundesweite Partei. Leute, die früher uns gewählt haben und heute die AfD wählen, haben eben nichts anderes mitbekommen außer der Flüchtlingsfrage. Sie haben nicht mitbekommen, dass die AfD für die Streichung der Mindestlöhne ist, dass die AfD dafür ist, die Kernkraftwerke wieder anzuschalten. Sie haben nicht mitbekommen, dass die gegen eine Vermögenssteuer sind, sie haben nicht mitbekommen, dass sie den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer senken wollen. Das ist ein asoziales Programm.

Kann sich die AfD etablieren?

Ich glaube das nicht. Entgegen ihrer Aussage ist es auch nicht ein wahnsinniger demokratischer Fortschritt, dass viele frühere NichtwählerInnen sie gewählt haben, sondern dahinter steckt ja, dass sie einen bestimmten Protest artikulieren, dass sie Ängste schüren und nutzen. Wir haben in ganz Europa und in Deutschland eine Rechtsentwicklung. Und da haben wir alle eine historische Verantwortung. Also Medien, Wirtschaft, Kunst, Kultur, Wissenschaft, Sport, Gewerkschaften und Kirchen, aber auch die Politik. Meines Erachtens müssen die Linken und die anderen bis hin zur Union springen und sagen, hier müssen wir uns jetzt mal zusammensetzen und gemeinsam beraten, wie wir diese Entwicklung in Europa und in Deutschland verhindern. Danach können wir uns wieder streiten wie die Kesselflicker. Aber das ist ihre gemeinsame historische Aufgabe.

Was heißt springen?

Die Union will ja nichts mit uns zu tun haben, wir wollen ja nicht wirklich was mit der Union zu tun haben. Trotzdem muss mal einmal sagen: gut das spielt jetzt keine Rolle. Ich glaube, wir sind jetzt in einer extremen Veränderung unserer gesellschaftlichen Struktur. Wenn die Grünen in Sachsen-Anhalt nicht in den Landtag reingekommen wären, dann hätte es eine Mehrheit gegen die AfD nur mit CDU und den Linken gegeben. Darüber muss sich jetzt auch die Linke Gedanken machen. Und auch die CDU. Was machen wir in einem solchen Fall? Man kann ja nicht sagen, ein Glück, diesmal hat es gerade noch geklappt. Was ist, wenn es bei der nächsten Wahl passiert?

Fehlt im Bundestag in der Flüchtlingsfrage nicht auch eine vernehmbare Oppositionskraft. Seehofer kann man schließlich nur in Bayern wählen?

Das ist wahr. Das Problem besteht darin, dass wir die CDU-Bundeskanzlerin jetzt schon gegen die CSU verteidigen müssen. Das hätte ich vor ein paar Jahren auch noch nicht geahnt. Ich glaube nicht, dass wir diese Art Opposition wirklich dringend benötigen. Wir bekämen vielmehr Ängste abgebaut, wenn wir ernsthaft an die Problemlösung gingen: an mehr Entwicklungshilfe, an die Überwindung von Hungertod und Kriegen.

Ist Rot-Rot-Grün bei einem Fünf- oder gar Sechs-Parteien-Bundestag 2017 inzwischen nicht völlig illusorisch?

Im Gegenteil. Auch die anderen Parteien müssen sich Gedanken machen, was sie gegen die Rechtsentwicklung tun wollen. Also: Will die SPD weiterhin grandios verlieren als Anhängsel der Union? Oder will sie wieder mal ernsthaft beanspruchen, sozialdemokratisch zu werden und den Kanzler zu stellen? Für den Fall müssen sie mit uns reden und mit den Grünen, ob man gemeinsame Projekte hinbekommt. Damit kann man allerdings nicht erst nach der Wahl 2017 anfangen. Es wird höchste Zeit, dass die Sozialdemokraten aufwachen.

Haben Sie jetzt in der politischen Altersteilzeit mehr Zeit, sich um schöne Dinge des Lebens zu kümmern?

Nein. Das Problem: Ich habe Verantwortung abgegeben, und das genieße ich auch. Auf der anderen Seite hat sich meine Hoffnung, mehr Zeit zu haben, als Irrtum herausgestellt. Weil alle denken, dass ich mehr Zeit habe, bekomme ich doppelt so viele Einladungen. Und da ich ein schlechter Nein-Sager bin, bin ich derart ausgelastet, dass sich das im zweiten Halbjahr ändern muss. Meinen Leuten habe ich per SMS gesagt, ich verlange dann jede Woche einen freien Tag. Das kann auch der Sonntag sein. Und das ist doch mit 68 nicht übertrieben und zu viel verlangt, oder? Mit 69 will ich dann sogar zwei freie Tage haben.

Gespräch: Peter Heimann