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Dicke Luft am Schwartenberg

Seit vielen Jahren leiden die Leute im Erzgebirge unter der Luftverschmutzung aus dem böhmischen Becken. Nun soll eine junge Chemikerin dem Gestank auf die Spur kommen.

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© Robert Michael

Von Thomas Schade

Nebel wabert auf fast 800 Meter Höhe über den Erzgebirgskamm. Die Baude auf dem Schwartenberg ist offen, aber kaum zu sehen. Der Funkmast der Telekom versteckt sich im Dunst. Daneben, im Trichter auf einem Containerlabor, rotiert kaum hörbar in Abständen ein Ventilator. Er saugt Luft an. Seit mindestens 12 Jahren überwacht diese Messstation, auf einer der höchsten Erhebungen des Osterzgebirges, die Anteile verschiedener Schadstoffe in der Luft.

Anita Müller wohnt in Seiffen und hat für ihre beiden Kinder immer ein Notpaket bereitstehen mit einem Inhalator.
Anita Müller wohnt in Seiffen und hat für ihre beiden Kinder immer ein Notpaket bereitstehen mit einem Inhalator. © Robert Michael
Britta Kämpken arbeitet in einem Labor in Nossen. Sie will den Schadstoffen auf die Spur kommen.
Britta Kämpken arbeitet in einem Labor in Nossen. Sie will den Schadstoffen auf die Spur kommen. © Ronald Bonß

„Heute haben wir Westwind“, sagt Hartmut Tanneberger. „Heute stinkt’s nicht.“ Der 68-Jährige aus Olbernhau weiß genau, was auf dem Schwartenberg gemessen wird: Schwefeldioxid, Benzol, Stickoxide und andere Schadstoffe. Hartmut Tanneberger leitet die Bürgerinitiative „Für saubere Luft im Erzgebirge“. „Bei klarem Wetter könnten wir von hier weit hinein in das böhmische Becken gucken“, sagt er und zeigt nach Süden. Dann seien die großen Industriekomplexe zu sehen.

Einige Hundert Schornsteine qualmen im böhmischen Becken. Seit einhundert Jahren wird dort Braunkohle verstromt, riesige Tagebaue verwüsteten, ähnlich wie in der Lausitz, die Landschaft. Die Kraftwerke gehören zu den wichtigsten Steckdosen des Landes. Später siedelten die Tschechen petrochemische Betriebe an, wie Chemopetrol in Litvinov. Ausgestoßene Schadstoffe führten zum Waldsterben im Erzgebirge, dessen Folgen bis heute nicht beseitigt sind. „Irgendwo da unten liegt auch die Quelle des Übels, mit dem wir uns bis heute herumplagen“, sagt Tanneberger.

Seit Jahrzehnten klagen Menschen am Fuße des Schwartenberges in Seiffen und in den Tälern der Flöha und der Schweinitz über Gestank, der ihnen meist in den Wintermonaten und bei ganz speziellem Wetter zu schaffen macht. Bis vor zehn Jahren war diese Luftbelastung als „Katzendreck“ verschrien – vorwiegend Schwefeldioxid, das aus böhmischen Kraftwerksschloten entwich. Die Energieerzeuger wurden in den 90er-Jahren mit modernen Rauchgasentschwefelungen ausgerüstet, der Ausstoß von Schwefeldioxid sank um 90 Prozent, der „Katzendreck“ verschwand weitgehend. Doch von Zeit zu Zeit stinkt es immer noch und nicht weniger penetrant. Wie ein Mysterium weht dann süßlich, faulig stinkender Wind zwischen dem Vogtland und Altenberg über das Erzgebirge. Und trotz dutzender Untersuchungen weiß bis heute keiner genau, was es ist.

Aber es gibt schätzungsweise mehrere Hundert Menschen in der Region, insbesondere Kinder, die plötzlich Übelkeit, Bauchschmerzen oder gefährliche Atemnot verspüren, die brechen müssen oder über Durchfall klagen – immer, wenn es stinkt. So wie zuletzt im Oktober und November 2014, als eine der längsten so-
genannten Inversionswetterlagen der letzten Jahre über dem Erzgebirge stand.

Sechs Wochen lang sei sie damals mit ihren Kindern nicht an die Luft gegangen, sagt Anita Müller. Vor allem im Winter beginne ihr Tag mit einem Blick auf das Windrad des Nachbarn. „Wenn der Wind aus Südosten kommt, gehen wir nicht aus dem Haus“, sagt die 25-Jährige. Dann könne sie darauf warten, dass ihre beiden Jungs erbrechen oder hohes Fieber bekommen. Die junge Frau lebt mit ihrer Familie in Seiffen. Vor einigen Tagen war sie in Olbernhau und zeigte das Notfallpäckchen, das sie für die Kinder jederzeit im Haus bereithält. Ein Inhalator gehört dazu und ein Absauger.

Magda Preißler schildert bei dem Treffen der Bürgerinitiative einen Anfall von Pseudokrupp, den ihr knapp zweijähriger Sohn an einem dieser Tage erlitt. Plötzliche Atemnot. Er bekam keine Luft mehr, die Atemwege waren zugeschwollen. Sie schilderte die Angst in den Augen des Kindes, wie hilflos sie zuschauen musste, als er gegen das Ersticken kämpfte. Sie habe versucht, ihr Kind zu beruhigen und mit ihm im Bad am Wasserstrahl der Dusche ausgeharrt, bis es langsam besser wurde.

„So eine Nacht wünsche ich keiner Mutter“, sagt Preißler. Sie hat die Facebook-Gruppet „Für saubere Luft in unserem Erzgebirge“ gegründet. Dort veröffentlicht sie verständlich und fast täglich Grafiken mit Umweltdaten und Windrichtungen.

Anita Müller sagt: Sie kenne viele Frauen, die ihren Tagesablauf mittlerweile nach den Informationen auf der Facebookseite einteilen. Was fast übertrieben anmutet, hinterlässt an diesem Tag in Lösers Gasthaus in Olbernhau Eindruck bei den Umweltministern des Bundes und des Landes Sachsen. Barbara Hendricks und Thomas Schmidt sind an diesem Tag ins Erzgebirge gekommen, um sich die Sorgen der Leute anzuhören. Sie berichten, was getan wurde und müssen die Betroffenen dennoch um Geduld bitten. So versichert die Bundesumweltministerin: „Wir wollen an die Quellen.“ Aber sie wisse nicht, wie lange das dauere, „weil wir die Ursachen nicht kennen“, sagt Hendricks auf dem Krisengipfel.

In Nossen versucht seit vergangenem Herbst eine junge Frau aus Frankfurt am Main, der Ursache des Gestanks auf die Spur zu kommen. In der Betriebsgesellschaft für Umwelt und Landwirtschaft, dem Labor- und Messzentrum des sächsischen Umweltministeriums, wurde für sie extra eine Stelle geschaffen. Hier ist die promovierte Chemikerin Britta Kämpken quasi über Nacht zur wichtigsten Luft-Detektivin Sachsens geworden. Sie geht einem Verdacht nach, den Fachleute schon seit Jahren hegen, für den es aber bisher keine Beweise gibt. „Wir entwickeln eine Analysemethode zum Nachweis von Mercaptanen in der Erzgebirgsluft“, sagt sie.

Mercaptane sind organische, schwefelhaltige Verbindungen, die in der petrochemischen Industrie entstehen und einige unangenehme Eigenschaften haben. Sie sind leicht flüchtig und riechen schon in kleinsten Mengen besonders übel. Hier liege das Problem, sagt die Chemikerin: „Wir verspüren den unangenehmen Geruch von Fäkalien oder verrottendem Kohl, aber die Geruchsschwelle dieser Stoffe liegt so niedrig, dass sie mit den bisherigen Verfahren nicht messbar waren.“

Ein Vergleich: Schwefeldioxid im Rauchgas nimmt unsere Nase wahr, wenn 5 Milligramm davon in einem Kubikmeter Luft sind. Das sind 5 000 Mikrogramm. Ethylmercaptan riecht man schon, wenn nur 0,022 Mikrogramm davon in einem Kubikmeter Luft sind. „Wir riechen den Stoff, können ihn aber bisher weder sichtbar machen, noch messen“, sagt Britta Kämpken. Sie will das ändern, sie will nachweisen, ob Mercaptane den Gestank verursachen, und wenn ja, in welcher Konzentration.

Dafür simuliert sie seit Wochen das Problem im Labor, bläst ein Prüfgas durch feine Filter. In denen bleiben die Mercaptan-Moleküle hängen, die es nachzuweisen gilt. Danach werden die Filter erhitzt, bis sich die Moleküle lösen und mit dem Trägergas Helium durch moderne Analyse- und Messgeräte strömen. „Mithilfe dieser Geräte wollen wir die Mercaptane sichtbar und messbar machen“, so die Chemikerin.

Doch die Moleküle zeigen sich nicht von allein. In den Geräten müssen sehr spezielle Bedingungen herrschen, und die muss Britta Kämpken herausfinden. Zehn bis zwanzig Messungen führt sie dafür täglich durch. Wann das Verfahren praxistauglich sein wird, wann sie zum Schwartenberg fahren kann und die eingefangene Erzgebirgsluft in dem Nossener Labor untersuchen kann, das steht noch nicht fest. „Wir wollen ein Verfahren, das von der tschechischen Seite akzeptiert wird und das auch juristisch allen Anforderungen standhält“, sagt die Chemikerin. „Dafür brauchen wir die optimale Lösung.“

Dennoch drängt die Zeit, das wurde bei dem Treffen der Betroffenen mit den Ministern in Olbernhau deutlich. „Bitte zeigen Sie uns, dass es sich lohnt, die Flinte nicht ins Korn zu werfen“, sagt Uwe Klaffenbach dort an die Minister gewandt. Als Schul
leiter trägt er Verantwortung für 500 Schüler in Olbernhau. Er berichtet von Tagen, an denen sich bis zu 30 Schüler krankmelden. „Nehmen Sie das ernst“, bittet er, die Leute kämen sich mittlerweile „ein Stück weit veralbert“ vor.

Der Seiffener Pfarrer Michael Harzer erzählt, wie er im tschechischen Most über den städtischen Friedhof gelaufen sei und die Grabsteine betrachtet habe. „Da war ich schon überrascht, wie gering die Lebenserwartung der Menschen dort ist.“

Hartmut Tanneberger zeigt vom Schwartenberg in Richtung Seiffen. Dort sei die Bürgerinitiative 2001 entstanden. Tanneberger ist ein SPD-Urgestein in der erzgebirgischen Kommunalpolitik. Für ihn sei die Luftverschmutzung seit 1990 schon Thema. Alle Umweltminister habe er deswegen schon hergeholt. Lange habe man die Aktivisten belächelt und vertröstet. „Jetzt ist das anders“, sagt er.

Spätestens seit Tanneberger und eine der Mitbegründerinnen der Bürgerinitiative am 19. September 2012 mit ihrer Petition und 11 000 Unterschriften im EU-Parlament in Brüssel auftauchten, werden sie respektiert. Mit sehr gezielten Hinweisen und Fragen haben die Aktivisten die Brüsseler Bürokratie in Bewegung gesetzt. Fünf Minuten durften sie reden bei der Erörterung. „Wir haben denen deutlich gesagt, dass die Leute von der EU Hilfe erwarten und dass dringend Handlungsbedarf besteht.“ Die Kommission hat inzwischen festgestellt, dass im westlichen Teil der nordböhmischen Industrieregion die Grenzwerte für einige Schadstoffe nicht eingehalten werden, und sie hat deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. „Das war nicht unser vorrangiges Ziel“, sagt Tanneberger und warnt: „Wir wollen vorwärtskommen und keine Feindschaften mit unseren Nachbarn aufbauen.“

Auch in Tschechien wartet man auf diese neuen Analysen, die derzeit in Nossen vorbereitet werden. Das bestätigt Kurt Dedic vom Prager Umweltministerium bei der Zusammenkunft in Olbernhau. Ihm sei die Zusammenarbeit mit Sachsen sehr wichtig. Er vermutet, dass „diffuse Schadstoffquellen“ wie defekte Rohrleitungen den Gestank verursachen. Man müsse wissen, wer die Verursacher sind, vorher werde kein Produzent was ändern, beschreibt er die Schwierigkeiten in seinem Land.

Derweil kämpfe er gegen Widerstände im eigenen Land, sagt Tanneberger. Im sächsischen Sozialministerium beispielsweise. „Wir wollen endlich Klarheit, ob der Gestank die Leute tatsächlich krank macht.“ Alle bisherigen Studien verneinten das, seien aber auch nur bedingt aus-
sagekräftig. 2013 habe das Ministerium seinen Antrag auf eine weitere Untersuchung wortreich abgelehnt. „Da haben wir einen bösen Brief geschrieben“, sagt er. Nun sei das Geld im aktuellen Doppelhaushalt eingestellt worden. „Wir sind mittlerweile auf ganz gutem Wege“, glaubt der 68-Jährige. Wenn man die Mercaptane endlich finde und genügend Einwohner sich an der neuen Gesundheitsstudie beteiligten, so sagt Tanneberger, „dann müssen die Politiker auch handeln“.

Vor wenigen Tagen in Olbernhau drückte er der Bundesumweltministerin noch einmal 4 600 Unterschriften in die Hand und gab seiner SPD-Genossin mit auf den Weg: „Die können Sie sich in Berlin unters Kopfkissen legen.“ Barbara Hendricks blieb ihm die Antwort nicht schuldig und konterte: „Ich habe in meinem Büro kein Kopfkissen.“ Dennoch könne er von ihr keine Wunder erwarten.