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Der zweite Job zu Hause

Die Fachkräfteallianz möchte die Unternehmer sensibilisieren. Ein Mittweidaer Firmenchef erzählt von seiner Erfahrung.

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© Archiv/dpa

Von Tina Soltysiak

Mittelsachsen. Detlev Müllers Eltern sind 84 und 85 Jahre alt und pflegebedürftig. „Ich habe mich vorher nie mit dem Thema Pflege auseinandergesetzt. Wer es nicht muss, der macht es nicht. Das ist bei den meisten so“, sagt er. Die Pflege und Betreuung eines nahen Angehörigen sei eine tägliche Herausforderung. „Es müssen alle mitspielen: die Kassen, der Pflegende und vor allem aber auch der Betroffene“, sagt Müller. Der Ingenieur ist geschäftsführender Gesellschafter der IMM Electronics GmbH Mittweida. Er beschäftigt derzeit 140 Mitarbeiter. „Auch einige von ihnen kümmern sich um kranke Angehörige. Es ist ein Thema, dem wir uns als Unternehmer stellen müssen“, sagt er. Deshalb sei er der Einladung der Fachkräfteallianz Mittelsachsen zum Thema „Vereinbarkeit von Pflege und Beruf?!“ nur zu gern gefolgt. „Wir haben einen Notfallplan zur Pflege. Das Selbstverständnis, ein familienfreundliches Unternehmen zu sein, war anfangs nur auf die Themen Kinderbekommen und -betreuen beschränkt. Doch je älter die Menschen werden, umso wichtiger wird das Pflegethema“, meint der 59-Jährige.

Welche körperliche und psychische Belastung dieser Spagat zwischen Job und Pflege ist, habe er an einem Beispiel aus seiner Belegschaft schmerzlich erfahren: „Einer meiner Mitarbeiter ist an einem Herzinfarkt verstorben. Er hatte seine Mutter vor und nach der Arbeit gepflegt. Davon haben wir im Unternehmen nichts mitbekommen“, erzählt Detlev Müller. Deshalb sei es wichtig, dass sowohl die Arbeitnehmer als auch die Arbeitgeber ihre Rechte und Pflichten kennen. Und genau darum drehte sich die Veranstaltung der Fachkräfteallianz Mittelsachsen.

Wer darf nahe Angehörige pflegen und welche Personen zählen dazu?
Für Arbeitnehmer besteht prinzipiell ein Rechtsanspruch, für die Pflege naher Angehöriger in häuslicher Umgebung freigestellt zu werden. „Pflegen dürfen Arbeitnehmer, Auszubildende, Umschüler, Heimarbeiter und arbeitnehmerähnliche Personen“, erläutert Rechtsanwältin Bianca Fijas-Seger von der Moog Partnerschaftsgesellschaft mbB aus Freiberg. Es spiele keine Rolle, wie lange die Person bereits im Unternehmen tätig ist. „Allerdings besteht der Rechtsanspruch erst ab einer Unternehmensmindestgröße von 15 Personen“, so Bianca Fijas-Seger. Als naher Angehöriger gelten Eltern, Großeltern, Kinder und Geschwister aber auch Schwieger- und Stief-eltern sowie eheliche und nicht-eheliche Lebenspartner. „Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate bestehen“, ergänzt Claudia Schöne, Bereichsleiterin Pflege/Häusliche Krankenpflege für die Regionen Ost- und Südsachsen der AOK Plus. Zudem müsse der zu pflegende Angehörige mindestens den Pflegegrad 1 vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MDK) zugesprochen bekommen haben.

Wie kann der Arbeitnehmer reagieren, wenn plötzlich ein Pflegefall eintritt?
Bei einer akut aufgetretenen Pflegesituation haben Beschäftigte das Recht, kurzzeitig, das heißt bis zu zehn Arbeitstage, der Arbeit fernzubleiben. „Wenn es erforderlich ist, um eine bedarfsgerechte Pflege für einen nahen Angehörigen zu organisieren, oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen“, so Bianca Fijas-Seger. Bei dieser Form der Freistellung spiele die Größe des Unternehmens im Übrigen keine Rolle. „Der Arbeitgeber muss diese Auszeit auch nicht genehmigen. Der Angestellte muss es dem Vorgesetzten jedoch mitteilen, ebenso die voraussichtliche Dauer seiner Abwesenheit. Und er muss eine ärztliche Bescheinigung vorlegen, dass es sich um einen akuten Fall handelt“, so die Fachanwältin für Arbeitsrecht. Inwieweit die Vergütung fortgezahlt wird, hänge vom jeweiligen Arbeitsvertrag ab. Aus seiner Erfahrung heraus weiß Unternehmer Detlev Müller aus Mittweida zu berichten: „Die meisten Arbeitnehmer lassen sich in so einem Fall einfach selbst krankschreiben. Damit können beide Seiten etwas anfangen, was die Abrechnung betrifft.“

Welche Unterlagen sind nötig, um die Pflegezeit zu beantragen?
Wer seinen nahen Angehörigen zuhause pflegen möchte, kann die sogenannte Pflegezeit in Anspruch nehmen. „Sie beträgt maximal sechs Monate. In dieser Zeit können Beschäftigte vollständig oder teilweise von der Arbeit freigestellt werden“, so Bianca Fijas-Seger. Dem Arbeitgeber sei das Vorhaben spätestens zehn Tage vorher anzukündigen. Zudem ist ein schriftlicher Bescheid des MDK vorzulegen. „Das Arbeitsverhältnis ruht während dieser Zeit. Der Angestellte bekommt kein Geld“, ergänzt sie. Fijas-Seger empfiehlt deshalb, für solche Fälle entweder einer Versicherung abzuschließen oder entsprechende Rücklagen zu bilden.

Warum nimmt kaum einer die Familienpflegezeit in Anspruch?
Wenn absehbar ist, dass auch sechs Monate nicht ausreichen, gibt es immer noch das Modell der sogenannten Familienpflegezeit: „Das heißt, Arbeitnehmer haben einen Rechtsanspruch auf eine teilweise Freistellung für die häusliche Pflege von nahen Angehörigen von bis zu 24 Monaten bei einer wöchentlichen Mindestarbeitszeit von 15 Stunden“, erläutert Rechtsanwältin Bianca Fijas-Seger. Der Arbeitgeber müsse mindestens acht Wochen im Voraus in Kenntnis gesetzt werden. Die Erfahrung habe jedoch gezeigt, dass kaum ein Arbeitnehmer von diesem Modell Gebrauch mache. „Der fehlende Lohn während dieser Zeit schreckt ab. Die zinslosen Darlehen, die beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben beantragt werden können, müssen auch zurückgezahlt werden“, ergänzt Claudia Schöne von der AOK.

Wie gehen Unternehmen mit dem Thema um?
Firmenchef Detlev Müller aus Mitweida sagt, er habe sich dem Thema „intuitiv und aus der eigenen Erfahrung heraus“ genähert. Claudia Schöne von der AOK ergänzt: „Vielen Arbeitnehmern ist es lieber, es finden sich Lösungen für Heimarbeit oder Teilzeitregelungen.“ Der Einladung der Fachkräfteallianz ist Christa Müller, Kaufmännische Leiterin der Pietsch Haustechnik GmbH aus Ostrau, gefolgt: „Wir sind am Anfang, möchten unsere Mitarbeiter für das Thema sensibilisieren“, sagt sie. Die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sei „ein Tabuthema, das erst einmal geöffnet werden muss. Wenn ein Mitarbeiter betroffen ist, muss er sein Privates nach Außen kehren. Das fällt auch nicht jedem leicht.“