Merken

Der Zuhörer

Wenn Menschen mit Gott und der Welt hadern, einsam und verzweifelt sind, rufen sie Michael Heinisch und sein 70-köpfiges Seelsorgeteam an. Manchmal geht es um Leben und Tod.

Teilen
Folgen
NEU!
© René Meinig

Von Nadja Laske

Es stirbt nicht jeder für sich allein. Ein Mensch stirbt auch für seine Familie, für Freunde und Kollegen. Auch sie verlieren ein Leben – das ihres Nächsten. Es selbst zu beenden ist eine Entscheidung, mit der die Zurückgebliebenen weiterleben müssen. „Rund 10 000 Menschen begehen pro Jahr in Deutschland Suizid“, sagt Michael Heinisch. Etwa sechsmal so hoch ist die Zahl derer, die mit betroffen sind.

Michael Heinisch ist Seelsorger. Er sorgt für Seelen, auf denen bleischwere Sorge liegt. Manchmal so schmerzlich, dass der Tod als Befreiung erscheint. Dennoch mit ihm zu hadern, wenigstens ein klein wenig mehr als mit dem Leben, das ist Michael Heinischs Chance. Denn wer bei ihm anruft, sucht in seiner Verzweiflung nach Hoffnung. Sonst wählte er nicht die Nummer der Telefonseelsorge. Bei der Diakonie sind rund um die Uhr und sieben Tage die Woche Mitarbeiter erreichbar, insgesamt 66 Ehrenamtliche und drei angestellte Kollegen. Heinisch leitet das Team und nimmt auch regelmäßig selbst ab, wenn eine Seele Beistand sucht. „Wir hören vor allem zu und stehen dem Anrufer in seiner schweren Lebenslage bei – ohne Bewertungen abzugeben oder Bedingungen zu stellen“, sagt er. Auch Ratschläge zu erteilen, ist nicht seine Aufgabe. Allenfalls kann er dazu anleiten, die schier ausweglose Situation zu überdenken.

„Einsamkeit ist der häufigste Grund, weshalb Menschen das Gespräch mit einem Telefonseelsorger suchen“, sagt Michael Heinisch. „Das betrifft nicht nur alte Menschen ohne Familie, sondern oft Jüngere, die in eine fremde Region gezogen sind und keinen Anschluss finden.“ Schwierigkeiten in der Erziehung bringen Eltern dazu, sich einer fremden Stimme am Ende der Leitung anzuvertrauen, ebenso Beziehungsprobleme. Eher seltener plagen Sinn- und Glaubensfragen die Menschen. Insgesamt gehen bei der Diakonie Dresden pro Jahr rund 20 000 Anrufe ein.

Außer über die Stimme und ihre Not erfahren Michael Heinisch und seine Kollegen nichts zur jeweiligen Person. „Bei uns gilt Anonymität, sowohl für den Anrufenden als auch für den Seelsorger.“ Namen, Adressen, Berufe und andere persönliche Daten spielen keine Rolle. Sogar der Arbeitsraum, von dem aus die Seelsorger Telefonate annehmen und führen, ist geheim. Für sich selbst macht Michael Heinisch eine Ausnahme. Seine Mitarbeiter aber bleiben geschützt. Sie alle haben eine einjährige Ausbildung absolviert. Wer sich als ehrenamtlicher Telefonseelsorger bewirbt, durchläuft zunächst ein Aufnahmeverfahren und beginnt bei Eignung die Schulung. Dabei befasst man sich mit seiner eigenen Persönlichkeit, erwirbt Grundwissen in der Kommunikation, trainiert Gesprächsführung und übt in der Praxis seelsorgerische Situationen. Zwischen Mitte 20 und 80 Jahre alt sind Heinischs Kollegen. Seelsorger sollten eine gewisse Lebenserfahrung mitbringen. Gerade mal volljährig zu sein, genügt dafür eher nicht.

Michael Heinisch ist den Weg von der Pike auf gegangen, studierte vor der Wende Sozialdiakonie mit Spezialisierung auf Pädagogik. Später absolvierte er am Institut für Seelsorge in Leipzig eine zusätzliche Ausbildung. Nach mehr als 20 Jahren mit verwalterischen Aufgaben zog es ihn zurück in die Praxis. Seit Anfang des Jahres arbeitet er nun als Leiter der Ökumenischen Telefonseelsorge Dresden und hat sich vorgenommen, seinen Pool zu verstärken. Schließlich kann es trotz des pausenlosen Einsatzes des Seelsorgeteams zu Wartezeiten kommen. Zwar stellt die Telekom eine ausgeklügelte Logistik zur Umleitung von Anrufen bereit, sodass bei Engpässen Kollegen in anderen Städten einspringen können. Dennoch reichen die Kapazitäten manchmal nicht aus. Im Schnitt dauert ein seelsorgerisches Gespräch 45 Minuten. Gelegentlich besetzen Scherzanrufer die lebensnotwendige Leitung. „Wenn das Kinder sind, nehme ich den Anruf ernst, auch wenn er offensichtlich als Spaß gedacht ist“, sagt Michael Heinisch. Es stecke immer auch eine besondere Botschaft dahinter. „Oft spielen die Kinder auf diesem Weg etwas durch, was womöglich einen ernsteren Hintergrund hat.“

Ernster als die Ankündigung eines Selbstmordes kann ein Anruf für Heinisch und seine Kollegen nicht sein. Schlimm, wenn der Anrufer unvermittelt auflegt. Dann bleibt die Frage: Was passiert jetzt? Gespräche untereinander und die monatliche Supervision sollen helfen, solche Erlebnisse zu verarbeiten. Michael Heinischs dauernde Rufbereitschaft ebenfalls. Damit die Seelen der Seelsorger heil bleiben – für all jene, deren Seelen Heilung brauchen.

Wer als Seelsorger ein offenes Ohr für die Sorgen anderer haben will, kann sich beim Diakonischen Werk unter Telefon 4940030 melden. Die Telefonseelsorge ist unter 0800 1110111 oder 0800 1110222 kostenlos zu erreichen.

www.telefonseelsorge-dresden.de