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Der Zug der Elenden

Hunderte KZ-Häftlinge werden in Bautzen und Kamenz brutal ausgebeutet. Als die Front naht, sollen alle sterben.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Gemütlich murmelt die Spree am Bombardierwerk in Bautzen. Die großen Hallen des Schienenfahrzeugherstellers liegen hinter Hochwasserwänden und Zäunen. Metallisches Scheppern weht über das Betriebsgelände in den Humboldthain. Ein paar frühe Sportler drehen ihre Runden an der Neuschen Promenade. Die wenigsten von ihnen achten auf den schlichten Stein am Wegesrand vis-à-vis vom Betriebstor.

„Zum Gedenken an die Opfer des KZ-Außenlagers Groß-Rosen“ steht auf dem Granit. Am 17. Oktober 1944 kommen die ersten 100 Häftlinge hier an. Ausgemergelte Gestalten stolpern an dem nasskalten Tag in dünnen Jacken, Hosen und Holzpantoffeln aus dem Viehwaggon auf dem Bautzener Güterbahnhof. An den schwarzen Brettern im Betrieb hängt schon seit Wochen das Verbot, mit KZ-Häftlingen Kontakt aufzunehmen. SS-Leute in warmen Mänteln eskortieren den Zug der Elenden im Schneeregen bis zum Werksgelände der Waggon- und Maschinenfabrik vorm. Busch. Das Vorkommando soll eiligst das Lager errichten. Die Baracken fehlen noch für die billigen Arbeitskräfte.

Denn die Front fordert ihren Tribut und reißt Lücken in die Belegschaft. Bereits seit Ende 1942 arbeiten 230 sowjetische Soldaten unter unmenschlichen Bedingungen im Bautzener Betriebsteil des Flick-Konzerns. Das Werk baut Tiefladewagen für den Panzertransport unter der Losung „Räder rollen für den Sieg“ und Feuerleitwagen für V-2-Raketen der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Neben dem Bautzener Ableger des Konzentrationslagers (KZ) entstehen in dieser Zeit in der Oberlausitz zehn weitere KZ-Außenlager, unter anderem in Görlitz, Niesky, Kamenz, Radeberg, Weißwasser und Zittau.

Die meisten Häftlinge, darunter viele polnische Juden, kommen aus den großen KZ Groß-Rosen (heute Rogoznica in Polen) und Flossenbürg in Bayern. Obersturmbannführer Erich Rechenberg kommandiert die 13 700 Gefangenen. Mit seiner Familie lebt er am Görlitzer Lager in einer Holzbaracke. Auf sein Konto gehen gut 2 500 ermordete Häftlinge, 400 davon in Bautzen. Zur Rechenschaft gezogen wird er nach 1945 dafür nicht, da ihm die Tötungsverbrechen nicht nachzuweisen sind. Er stirbt 99-jährig im Jahr 2000 in Ratzeburg.

Wie oft Erich Rechenberg das Bautzener Lager besucht, ist nur schwer nachzuvollziehen. Den ersten 100 Häftlingen folgt am 14. Dezember 1944 eine zweite Gruppe. Am 10. Februar 1945 erreicht das Lager die höchste Zahl mit 498 Häftlingen. Doch die Betriebsleitung braucht mehr Nachschub, wie der Schriftwechsel mit der Leitung des KZ Groß-Rosen zeigt. Ihn sichtete die Arbeitsgruppe Betriebsgeschichte des VEB Waggonbau Bautzen in den 1980er-Jahren. Die wenigen Publikationen zum Thema beziehen sich weitgehend auf diese Forschungen. Sie beschreiben auch das unerträgliche Leben im Lager hinter 40 000 Meter Stacheldraht und 7 000 Meter Zaungeflecht. 60 Mann SS bewachen sie.

Die Häftlinge arbeiten 14 Stunden und mehr, ihre Essensschüsseln sind oft leer. Die Führung des KZ Groß-Rosen weist wiederholt darauf hin, dass Arbeitskräfte entsprechend der Norm mit 814 Gramm Gemüse täglich verpflegt werden müssen. Das Wirtschaftsamt der Stadt weigert sich, diese Menge zu liefern. Angeblich sind die Vorräte alle. Stattdessen gibt es täglich Brennnesselsuppe und 200 Gramm Brot. Die Häftlinge sterben an Unterernährung, Erschöpfung, Krankheiten oder Misshandlungen. Die Toten landen nackt und übereinandergestapelt in Kisten. Ihr letzter Weg führt sie nach Görlitz. Über dem dortigen Krematorium steht in dieser Zeit unaufhörlich eine bläuliche Wolke.

Tod durch die Giftspritze

Während die Häftlinge in Bautzen kriegswichtige Transportmittel montieren, bauen im KZ-Außenlager Kamenz-Herrental Gefangene Flugzeugmotorenteile für das Daimler-Benz-Werk der Stadt zusammen. Der erste Häftlingszug kommt dort am 1. November 1944 an. Es sind 700 Gefangene aus einem Konzentrationslager bei Legnica, 750 weitere billige Arbeitskräfte schleppen sich im Dezember 1945 barfuß, unterernährt und krank in das Quartier in einer stillgelegten Tuchfabrik. Als Unterkunft dienen leer geräumte und mit Stroh ausgelegte Säle des Fabrikgebäudes.

Schließlich sollen die Häftlinge arbeiten. Nur das zählt. Kranke und Arbeitsunfähige bekommen eine Giftspritze, sagt nach dem Krieg ein Arbeiter aus. So berichten es die Akten im Kamenzer Stadtarchiv. Doch der Krieg rückt voran. Am 10. März 1945 erhält das Außenlager den Befehl zur Auflösung. Ein Ende der Qual ist für die 690 Lebenden noch nicht in Sicht. In Güterwagen gepfercht landen sie im KZ Dachau. Dort beginnt für die Kamenzer Häftlinge ein mörderischer Fußmarsch in die Alpen.

Die letzten 260 Bautzener Gefangenen begeben sich in der Nacht vom 19. zum 20. April 1945 auf ihren Todesmarsch, während die ersten russischen Panzer in die Stadt rollen. Einer der Todgeweihten ist Roman König. Der Jude kehrt nach dem Krieg in seine Heimatstadt Bautzen zurück. Gegen 23 Uhr setzt sich der Zug ausgemergelter Körper unter Hundegebell in Bewegung in Richtung des tschechischen Mikulášovice (Nixdorf). Vier Stunden später in der Nähe Diehmens erschüttert eine gewaltige Detonation die Luft. Der Himmel färbt sich rot. Ein SS-Kommando hat die „Kronprinzenbrücke“, die heutige Friedensbrücke, gesprengt. Die Häftlinge erwartet in Visko (Neudörfel) in einem Waldstück die Exekution. Die Maschinengewehre stehen bereits in Stellung. Heftige Proteste der Bevölkerung verhindert das Massaker. Daraufhin nimmt die SS-Wachmannschaft in der Nacht Reißaus. Am nächsten Morgen gehen 200 Gefangene in die Freiheit. Das Schicksal vieler ist bis heute unbekannt.