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Der weibliche Weihnachtsmann setzt sich zur Ruhe

23 Jahre hat Ilse Schleicher aus Görlitz viele Kinder beglückt. Dabei stieß sie am Anfang auf Skepsis.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Ingo Kramer

Die Anfänge hat Ilse Schleicher noch in Erinnerung, wenn auch nicht durchweg in positiver. 1994 war das, die Weinhüblerin war 50 Jahre alt und suchte eine neue Herausforderung. „Da schrieb die SZ, dass in Görlitz Weihnachtsmänner gesucht werden“, sagt sie. Sie meldete sich beim Arbeitsamt, doch das Echo war bescheiden: Ganze drei Adressen bekam sie zugeteilt: „Die Leute waren skeptisch, weil ich eine Frau bin.“ Dann aber brach sich ein anderer Weihnachtsmann kurz vor dem Fest ein Bein, Ilse Schleicher bekam einen zweiten Anruf, sollte für den Kollegen einspringen: „Plötzlich hatte ich die Liste voll.“

Kaum wiederzuerkennen: Ilse Schleicher als Weihnachtsmann
Kaum wiederzuerkennen: Ilse Schleicher als Weihnachtsmann © privat

Und der weibliche Weihnachtsmann kam bei den Familien so gut an, dass er ab dem zweiten Jahr immer weniger Angebote vom Arbeitsamt annehmen musste. „Die Leute engagierten mich privat, das sprach sich schnell rum.“ Um das Geld ging es der damaligen Deutschlehrerin allerdings nie: „Das habe ich zum Großteil gespendet, zum Beispiel an das Kinderdorf.“ Stattdessen wurde sie aus Spaß an der Freude Weihnachtsmann. „Kinder waren immer meine Lieblingsmenschen“, erklärt sie. Zu Spitzenzeiten hat sie am Heiligabend 14 Familien besucht, von 14.30 bis 21.30 Uhr. „Danach war ich völlig kaputt, durchgeschwitzt und brauchte nur noch meine vier großen Bs“, sagt Ilse Schleicher – und zählt auf: Badewanne, Bier, Bratwurst, Bett.

Doch auch sonst hielt das Dasein als Weihnachtsmann viele Herausforderungen bereit. Im ersten Jahr sei sie unheimlich naiv gewesen, sodass ihr Konzept überhaupt nicht aufging. Um ein guter Weihnachtsmann zu sein, müsse man vieles beachten, vorher die Route abfahren, Hausnummern, Klingelschilder, geeignete Parkplätze und den exakten Standort des Geschenkesackes suchen und finden. Und ein Weihnachtsmann braucht Helfer, „sonst ist man verraten und verkauft“. Eine Schneiderin hat den viel zu langen Mantel gekürzt, eine Freundin war fürs Schminken zuständig und jemand, der das Auto vors Haus fährt, sei auch Gold wert. Zudem müsse der Weihnachtsmann auf jeden Fall die Telefonnummern der Auftraggeber dabei haben: „Man kann einen Unfall haben oder im Schnee stecken bleiben.“

Einmal ist das wirklich passiert, sie fuhr sich auf einem Parkplatz fest, kam nicht mehr weg: „Den Rest der Tour bin ich dann mit dem geliehenen Auto einer Freundin gefahren.“ Als sie es irgendwann abends unbeschädigt zurückgegeben hatte, rief sie den Abschleppdienst, der ihr eigenes Auto aus dessen misslicher Lage befreite. Doch das war noch nicht einmal ihre schlimmste Situation. Einmal liefen zwei vielleicht 13-jährige Jungen hinter ihr her. Ilse Schleicher hörte, wie der eine mit Blick auf den Weihnachtsmann zu dem anderen sagte: „Komm, den überfallen wir.“ Es gelang ihr, in einen Hauseingang zu flüchten und die Tür hinter sich zu schließen. Als sie ihren Auftrag in dem Haus erledigt hatte, ließ sie sich von den Gastgebern zur Tür bringen – doch die beiden Jungen waren weg.

Ansonsten sind es natürlich hauptsächlich schöne Geschichten, die aus 22 Jahren Weihnachtsfrau-Dasein hängen geblieben sind. „Manche Familien bestellen mich immer wieder, obwohl dort längst niemand mehr an den Weihnachtsmann glaubt.“ Da gehöre sie fast schon zur Familie. Und dann all diese Kindergeschichten. Zum Beispiel, wenn es darum ging, den Schnuller abzugeben: „Manche Kinder haben ihn mir gleich entgegengestreckt, als ich zur Tür rein kam, bei anderen war es richtig traurig, als ich ihn mitgenommen habe.“ Oder die Kurve zu kriegen, wenn ein richtiger Lausejunge, der über das Jahr so einiges angestellt hatte, trotzdem viele Geschenke bekommen sollte. An einen kann sie sich besonders erinnern. Ilse Schleicher hatte nie eine Rute dabei. Stattdessen ließ sie den Jungen singen: „Und plötzlich sang er mit einer so wunderbar klaren Stimme, dass alle ganz gerührt waren.“ Über das Singen habe er sich seine Geschenke verdient.

Inzwischen ist Ilse Schleicher 72 Jahre alt. Zeit, aufzuhören, findet sie. Schon in den vergangenen Jahren hat sie immer weniger Aufträge angenommen, dieses Jahr nur noch drei. Das 23. Jahr als Weihnachtsmann soll ihr letztes sein. „Ich habe ja auch noch andere Hobbys, gebe Yoga-Kurse und mache Synagogenführungen.“ Beides will sie weiterhin tun, solange es gesundheitlich geht: „Langweilig wird mir jedenfalls nicht.“ Nur die Kinder, die wird sie vermissen. Aber vielleicht findet sie endlich die Zeit, all ihre Erlebnisse als Weihnachtsmann für ein Buch aufzuschreiben: „Freunde haben mich immer wieder ermutigt, das zu tun.“ Inzwischen hat sie schon einen Plan, wie die Kapitel aufgebaut sein sollen. Nur die Zeit, sie auch mit Inhalt zu füllen, war bisher nicht da. Einen anderen weiblichen Weihnachtsmann hat sie im Übrigen in all den Jahren nie kennengelernt.