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Der Weg Sachsens zur Oberschule ist eine Mogelpackung

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellen Themen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.Heute: SZ-Redakteurin Carola Lauterbach fragt sich, warum die sächsische Mittelschule ab Schuljahr 2011/12 Oberschule heißen soll. Sie hält den Namenwechsel für eine Beruhigungspille der CDU an die FDP – und eigentlich auch für Etikettenschwindel.

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Von Carola Lauterbach

Das Sandmännchen ist geblieben und der grüne Pfeil. Peu-à-peu kam mancherorts die Poliklinik wieder und auch die Gemeindeschwester. Viel ist das nicht, halt so ein bisschen DDR-Revival. Und nun also auch die Oberschule…

Die Oberschule? Er oder sie geht auf die Oberschule hieß im DDR-Sprachgebrauch – zumindest der Eltern- und Großelterngeneration –, er oder sie gehen auf die Erweiterte Oberschule (EOS), um das Abitur zu machen. Unter Schülern war das schlicht: die Penne. Die zehnklassige allgemeinbildende polytechnische Oberschule indes war im Volksmund nur „die POS“.

Warum also soll es die Oberschule wieder geben? Das Abitur macht man doch heute am Gymnasium. An dieser Stelle zumindest können alle beruhigt werden: Das Gymnasium wird das Gymnasium bleiben. Die Rückkehr der Oberschule in Sachsen bezieht sich auf die Mittelschule! Im Koalitionsvertrag von CDU und FDP vom 22.September 2009, liest sich das so: „Wir wollen die Mittelschule als Kernstück unseres Schulsystems zur Oberschule weiterentwickeln.“

Damals war dieser Satz nicht weiter aufgefallen. Dabei war die mediale Beobachtung der Koalitionsverhandlungen schon stark auf den Bereich Bildung gerichtet. Es schien, als lägen Konservative und Liberale darin am weitesten auseinander. Zumindest in dem, was sie ihren Wählern versprochen hatten. Die CDU berief sich auf das gute Abschneiden der sächsischen Schüler bei Pisa- und diversen anderen Tests und führte das auf das erfolgreiche Schulsystem zurück. Der Tenor: Bloß nicht daran rütteln.

Die FDP indes, lange Jahre auf den harten Bänken der Opposition, stänkerte im Wahlkampf. „Wir wollen die zu frühe Auslese der Schüler nach der vierten Klasse beenden. Zukünftig sollen alle Schüler mindestens bis zum Abschluss der Klassenstufe 6 gemeinsam die Schule besuchen. Durch ein längeres gemeinsames Lernen kann der soziale Umgang der Schüler untereinander verbessert werden.“ Es kann durchaus sein, dass es dieses Versprechen war, das der FDP in Sachsen Wähler in nie gekannter Größenordnung zuführte. Dabei stand von vornherein fest: Mit der CDU ist das nicht zu machen.

Die musste schließlich fünf Jahre zuvor ihrem damaligen Koalitionspartner SPD die Gemeinschaftsschule durchgehen lassen. Zwar nicht als Regelschule – wie im Nachbar-Freistaat Thüringen –, sondern als einen Schulversuch. Das schmerzte die Konservativen. Auch, weil sie zusehen mussten, wie gut es bei Eltern ankommt, dass ihre Kinder nach Klasse 4 in verschiedenen Leistungsgruppen unter einem Dach lernen können. Sogar auf dem Niveau des Gymnasiums. Selbst Bürgermeister mit CDU-Parteibuch können dem Projekt Gemeinschaftsschule Gutes abgewinnen – auch in der Hoffnung, Schulstandorte zu retten. Der Versuch soll nun aber auslaufen. Die CDU will solche Experimente nicht.

Wie also sollte vor diesem Hintergrund mit dem neuen Koalitionspartner FDP verfahren werden, ohne dessen Idee vom längeren gemeinsamen Lernen umzusetzen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass er nicht das Gesicht verliert?

Zunächst wurde Bildung bei den Koalitionsverhandlungen immer weiter hinausgeschoben. Dann wurde eine geheime Rechnung der CDU an die Medien lanciert, wonach der FDP-Plan einer späteren Auslese den Freistaat 500 bis 700Millionen Euro kosten würde, weil Hunderte Schulen um- oder neugebaut werden müssten. Es versteht sich von selbst, dass die FDP angesichts dieser horrenden Summe einknicken sollte. Irgendwann führte besagter Satz von der Mittelschule, die zur Oberschule weiterentwickelt werden soll, zum Durchbruch bei den Verhandlungen. Dabei wurde auch beschlossen, dass Schüler in Klasse 6 noch eine Bildungsempfehlung fürs Gymnasium bekommen könnten.

Aber ist das wirklich ein Kompromiss? Schon immer war es möglich, dass Schüler von der Mittelschule aufs Gymnasium wechseln, wenn sie die Voraussetzungen mitbringen. Dem Vernehmen nach sollen das aber immer weniger als ein Prozent gewesen sein. Allerdings war der Run auf die Gymnasien in den zurückliegenden Jahren nach Klasse 4 enorm. In Städten wie Dresden oder Leipzig wechselten über 50Prozent der Fünftklässler dahin. Das wurde möglich, seit 2005 der frühere Kultusminister Steffen Flath (CDU) den bisherigen Notendurchschnitt für den Übergang zum Gymnasium von bis zu 2,0 auf 2,5 anhob. Der Grund war: Der damalige Koalitionspartner SPD wollte den Zugang aufs Gymnasium völlig ohne Beschränkung.

Jetzt unter Schwarz-Gelb wurde die 2,5 von der CDU kassiert. Wieder gilt die 2,0 – nach Klasse vier und nach Klasse sechs. Es bestand Sorge, dass das Schulsystem so in Schieflage geriet, dass das Gymnasium zum „Kernstück“ wurde.

Aber auch das erklärt noch nicht, warum die Mittelschule Oberschule heißen soll. Warum ausgerechnet Oberschule? Sachsens Kultusminister Roland Wöller (CDU) fühlt sich offensichtlich auch nicht ganz wohl damit. Auf Nachfrage der SZ ringt er sich den Satz ab: „Das war das Ergebnis nächtlicher Koalitionsverhandlungen.“ Mag gut sein, aber was sagt das?

Längst hatte es die Runde gemacht, dass die Liberalen den Begriff eingebracht hatten. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Landtagsfraktion Torsten Herbst sagt, dass es schon auch eine gewisse Reminiszenz an die gute polytechnische Ausbildung früherer Zeiten sei. Es gehe aber um mehr, etwa um die Wertigkeit. Sachsens Mittelschule sei per Gesetz das Kernstück des Schulsystems. Und der Begriff Ober-Schule sei in der Wertigkeit nun einmal höher angesiedelt als Mittel-Schule.

Sprachwissenschaftlich ist dagegen sicher nichts einzuwenden. Warum aber ist das vor 20 Jahren niemandem eingefallen? Weil da die Oberschule an sich erstmal weg musste? Bildungsstrategen mögen indes schon damit gehadert haben, dass jemals der Begriff Mittelschule eingeführt wurde. Das klinge nicht wie Kernstück des Bildungssystems. Manche sagen sogar, das klingt wie Restschule. Aufgrund der hohen Übergangsquote von der Grundschule ans Gymnasium empfanden das auch viele Lehrer, Schüler und Eltern an Mittelschulen so. Ein anderer Name freilich ist noch keine Aufwertung. Wie soll denn die neue Oberschule gestaltet werden?

Der Kultusminister nennt sie und das berufliche Gymnasium „die Bundesstraße“ auf dem Weg zum Abitur, während das Gymnasium „die Autobahn“ sei. Auf die Frage aber, ob den „Oberschülern“ der Übergang aufs berufliche Gymnasium künftig nach Klasse 9 ohne zusätzliche Prüfung ermöglicht wird, gibt es heute noch keine Antwort. Oder bekommt die Oberschule eine eigene gymnasiale Oberstufe? Ein derartiges Oberschul-Modell mit dem Abitur nach 13 Jahren wird soeben im rot-grünen Bremen eingeführt. Es gilt als sicher, dass das schwarz-gelbe Sachsen gerade diesem Modell nicht folgen wird.

Fragen über Fragen. Und wenig Antworten. Selbst die auch medial gepriesene Bildungsempfehlung für Mittelschüler – die ab Schuljahr 2011/12 also Oberschüler sind – in Klasse 6 garantiert noch keinen Wechsel ab Klasse 7 aufs Gymnasium. Der setzt nämlich zwingend voraus, dass die betreffenden Schüler in Klasse 6 bereits die zweite Fremdsprache erlernen müssen. Doch das ist bislang gerademal an der Hälfte aller jetzigen Mittel- und künftigen Oberschulen in Sachsen möglich. Niemand vermag zu sagen, wann und ob das jemals an allen angeboten wird. Nicht der Minister, auch nicht die die Regierung tragenden Fraktionen.

So bleibt bei der Mutation der Mittel- zur Oberschule vor allem das mulmige Gefühl zurück, eine Mogelpackung präsentiert zu bekommen.