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Der Weg des größten Widerstandes

Sabine Müller-Mall ist eine von zehn neuen TU-Forschern. Sie gewann das Professoren-Casting, das lange umstritten war.

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© Amac Garbe

Von Peter Ufer

Sie heißt jetzt Frau Professor. Aber das hasst sie. Wenn überhaupt, dann Frau Professorin bitte. Sabine Müller-Mall ist der Titel letztlich aber egal. Die 34-Jährige beschäftigt sich lieber mit dem zunehmenden Rechtschaos bei Entscheidungen von Verfassungsgerichten.

Die Wissenschaftlerin stellt beispielsweise die Frage, warum das deutsche Verfassungsgericht bei Urteilen Entscheidungen der Juristenkollegen aus Frankreich oder den USA zitiert und teilweise in Überlegungen einbezieht? Ist das erlaubt, sinnvoll, notwendig oder schlicht eine unzulässige Vermischung von unterschiedlichen Rechtsystemen? Erhalten Verfassungsrechtskonzepte zunehmend einen Migrationshintergrund? Das ist Jura, Philosophie und höhere Mathematik zugleich. Für Sabine Müller-Mall gehört die Suche danach inzwischen zum Arbeitsalltag. Allerdings begann ihr Weg dahin mit Widerständen.

Sie studierte zunächst Mathematik und Physik. Die abstrakten Sudokuspielchen für Hochbegabte gingen der Pfälzerin aber schon nach kurzer Zeit gehörig auf die Nerven, denn sie boten keinerlei Lösungen für gesellschaftliche Probleme. Die Zahlenlogik war so weit weg vom Leben. Sabine Müller-Mall suchte Beweisführungen, die soziale Relevanz haben. Also besuchte sie andere Hörsäle, lernte Rechts- und Politikwissenschaften in Freiburg im Breisgau, Aix-en-Provence und Leipzig, promovierte 2010 zum Thema „Performative Rechterzeugung“ an der Humboldt-Universität Berlin. Sie arbeitete danach als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni in Göttingen und in Berlin. Vor einem Jahr stand sie vor der Entscheidung, in die USA zu gehen. Doch dann las sie die Ausschreibung der Technischen Universität Dresden: Open-Topic Tenure Track Professuren.

Aus Versehen alles richtig gemacht

Studenten und Wissenschaftlern fanden für die neue Form der Berufung schnell einen Namen: Professoren-Casting. Der gestandene TU-Professor Matthias Klinghardt von der Philosophischen Fakultät schiebt denn auch bei der Vorstellung der neuen Kollegin Sabine Müller-Mall noch einen Nachsatz hinterher: „In diesem Fall hat man wohl aus Versehen alles richtig gemacht. Ein geplanter Zufall, der die kühnsten Erwartungen überschritt.“ Rektor Hans Müller-Steinhagen ist anzusehen, dass er den Weg des größten Widerstandes ging, dass er es nicht leicht hatte, sich mit dem neuen Auswahlmodell amerikanischen Vorbilds durchzusetzen. Im hiesigen Hochschulgesetz kommt es gar nicht vor, und es setzte das etablierte Berufungssystem kurzzeitig außer Kraft. Völlig losgelöst von den konventionellen Strukturen einer deutschen Universität wurde weltweit nach den besten Köpfen gesucht, ohne Rücksicht auf Kollegen, die intern schon lange auf der Warteliste stehen. An dem Auswahlprozess durfte auch kein einziger Wissenschaftler der TU teilnehmen, sondern eine externe Findungskommission international renommierter Forscher fand aus 1.300 Bewerbern aus der ganzen Welt die zehn Kandidaten, die vor wenigen Tagen ihre Berufung als Professoren erhielten.

Sabine Müller-Mall gehört dazu, genau wie beispielsweise Andres Fabian Lansagni, der sich mit laserbasierten Methoden der großflächigen Oberflächenstrukturierung beschäftigt, oder Lars Koch, dessen Forschungsfeld die Kultur- und Medientheorie der Störung und die Literatur- und Mediengeschichte der Angst sind. Völlig neue Forschungsfelder, die frische Luft in die Wissenschaftsstuben der Eliteuniversität bringen sollen. Müller-Steinhagen beschreibt es als erhofften Innovationsschub, der einem interdisziplinären Ansatz folgt.

Sabine Müller-Mall erzählt von der Bewerbung, die im ersten Schritt tatsächlich einer Casting-Show ähnelte. „Ich reichte wie alle anderen Bewerber mein Konzept für eine Professur ein und wurde dann im vergangenen Sommer zum Vorsingen eingeladen.“ Das fand in Seminarräumen des Frankfurter Flughafens statt, denn die Kandidaten wurden aus der ganzen Welt eingeflogen. „Erst die Flughafenlounge, dann ein knallhartes fachliches Gespräch, danach wieder der Flughafen, das war schon ein merkwürdiges Setting“, sagt Müller-Mall.

Am Ende gehörte sie zu jenen 26 ausgesuchten Kandidaten, die nach Dresden fahren durften und hier mit dem Rektor sprachen. Aber da der sich keinem Vorwurf persönlicher Interessen aussetzen wollte, wurden für jeden Bewerber zusätzlich zu den Vorstellungsgesprächen sechs Gutachten internationaler Forscher eingeholt.

Sabine Müller-Mall räumt in diesen Tagen ihr Büro auf der Nürnberger Straße ein und darf jetzt selbst Mitarbeiter einstellen. Eine Sekretärin, drei Doktoranden und zwei studentische Hilfskräfte werden sie bei ihren Forschungen unterstützen. Sie alle gehören im Übrigen zur Philosophischen Fakultät und nicht, wie man annehmen dürfte, zur Juristischen. Aber genau das ist die Idee: andere Wege gehen als bisher, verschiedene Blickwinkel benutzen. Und deshalb hält Sabine Müller-Mall auch nichts von der These, dass sich die Geisteswissenschaften angeblich in einer Krise befinden. Im Grunde befänden sie sich immer dort und schöpften aus der Idee, sie zu überwinden ihre Kraft. Der Weg des größten Widerstandes ist für sie der erfolgreichste. Die Verfassungsgerichte werden sicher demnächst davon hören.