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Der Tag, als Jakow wiederkam

Nicht alle Sowjetsoldaten waren nach dem Ende der DDR für immer weg. Manche kehrten zurück, auch nach Oelsa.

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© SZ/Jörg Stock

Von Jörg Stock

Oelsa. Eines Tages stand Jakow vor der Tür. Er hatte sich durchgeschlagen, von der Millionenstadt Baku am Kaspischen Meer bis ins Dörfchen Oelsa an der Dippoldiswalder Heide. Was suchte er hier, dreieinhalbtausend Kilometer weit weg von daheim? Er suchte ein neues Leben. Sein altes hatte sich etliche Monate in Oelsa abgespielt, in einem Stückchen Wald mit Drahtzaun, Wohnwagen und Wachhund. Damals lag Oelsa in der DDR. Und Jakow war Soldat der Sowjetarmee.

Die Frau, vor deren Tür Jakow Anfang der 1990er-Jahre auftauchte, ist heute um die siebzig. Sie lebt nicht mehr in Oelsa, sondern in Freital, in einer kleinen Neubauwohnung. Sie will nicht erkannt werden. Dummes Gerede hat sie genug erlebt, sagt sie. Nennen wir sie Marion. Als neulich Marions Nachbarn mit einem SZ-Artikel über die Sowjetsoldaten in der Dippser Heide ankamen, fiel sie fast vom Stuhl. Der Jakow in der Zeitung! Sie griff zum Telefon und rief die Redaktion an.

Marion stammt aus einer Kleinstadt in Thüringen. Von ihrem Kinderzimmer aus konnte sie direkt in die Kaserne einer sowjetischen Panzereinheit gucken. Ging sie am Zaun entlang, ließ sie sich von den Soldaten Geld für kleine Einkäufe zustecken. Sie spielte mit den Kindern der sowjetischen Offiziere. Russisch lernen fiel ihr leicht. Während der Schulzeit legte sie sich vier Brieffreundinnen in der Sowjetunion zu. Später, als Sekretärin in einem Baubetrieb, dolmetschte sie gelegentlich, zum Beispiel, als die Firma einmal eine Planierraupe vom sowjetischen Militär borgen wollte. „Ich hatte immer Interesse an den Leuten“, sagt sie.

Nach Oelsa gezogen, kamen einmal Marions Kinder an, wollten Stift und Papier haben. Die Sowjetsoldaten im Wald hätten danach gefragt. „Da bin ich mit und habe die mir angeguckt.“ So lernte Marion die sowjetische Mini-Garnison in der Heide kennen, schloss Bekanntschaft mit Alik und Sascha, Kolja und Andrej, Fedja und Jakow. Und mit „Dembil“, dem Hund, dessen Name für das Lieblingswort der Soldaten stand: Demobilisazija – Entlassung.

Um Nachschub zu Allah gebetet

Zu dieser Zeit, Mitte der 1980er, befand sich der Stützpunkt schon etliche Jahre im Waldgebiet an der Alten Rabenauer Straße. Er gehörte zum 249. Garde-Motorisierten Schützenregiment aus Nickern. Eingerichtet wohl nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968, bestand er vor allem aus einem gut zwanzig Meter langen Bunker und einem Wohnwagen für die Bewacher. Man nimmt an, dass im Kriegsfall das Regiment in die Heide eingerückt und vom Bunker aus geführt worden wäre. Mehrmals im Jahr erschien die Truppe zum Üben. Rund vierhundert Fahrzeugstellungen waren im Unterholz eingebaut.

Bis auf gelegentlichen Offiziersbesuch waren die Wachsoldaten auf sich gestellt. Im Dorf kannte man sie. Sie waren beliebt. Das sagt ein Oelsaer Einwohner, ehemals Lehrer, der mehrere von ihnen kennenlernte. Auf der Straße steckten die Leute ihnen manchmal etwas zu. Man wusste, dass sie arm dran waren. Für die Soldaten sei der Posten in Oelsa wohl wie ein Fünfer im Lotto gewesen, denkt der Schulmann. So seien sie dem Kasernendrill entkommen oder einem Einsatz in Afghanistan. „Hier draußen zu sein – das war für die eine Welt.“

Die ärmlichen Verhältnisse im Bauwagen ließen auch Marion nicht kalt. Immer wieder brachte sie Verpflegung zum Stützpunkt, manchmal besuchte sie die Besatzung ein- bis zweimal die Woche. Die ohnehin karge Versorgung aus der Kaserne kam mitunter ins Stocken. Einmal, als zwei Wochen kein Nachschub gekommen war und Marion mit Brot am Wohnwagen auftauchte, freute sich Jakow besonders. Eben habe er zu Allah gebetet, dass sie etwas zu Essen bringen möge, erzählte er ihr.

Ungarische Salami für den Hund

Die Soldaten stammten meist aus Aserbaidschan, wo der Islam die vorherrschende Religion ist. Schweinefleisch gehörte somit nicht zum Speiseplan. Als die Familie des Lehrers einmal eine ungarische Salami aus dem Delikatladen mitbrachte, rochen die Soldaten nur an dem guten Stück und warfen es dann fort.

Zur Freude von „Dembil“, dem Schäferhund. Er verputzte die Wurst vor den Augen der perplexen Spender. Hin und wieder machten die Soldaten Gegenbesuche bei ihren Oelsaer Bekannten. Sie aßen mit ihnen und guckten Fernsehen. Ins Haus des Lehrers kamen sie einmal zum Musikhören und brachten eine Magnetbandkassette mit, die sie im Stützpunkt mangels Abspielgerät nicht benutzen konnten. Der Mann lacht, wenn er an diesen Abend denkt. Es handelte sich um orientalische Weisen. Ein Heulen und Jaulen war das, sagt er. „Es klang alles gleich.“

Einmal musste ein Soldat zum Zahnarzt. Karla Büttner, die damals gerade ihre Praxis in Oelsa aufgemacht hatte, sieht den seltsamen Patienten noch vor sich stehen. Militärische Hosen und Stiefel trug er, aber eine zivile grüne Strickjacke. Und im Gesicht eine dicke Backe. Ein eitriger Zahn war die Ursache. „Wir haben ihm damals schnell helfen können“, sagt sie.

Dann kam die Wende. Die Soldaten verschwanden. Aber Marion hielt Briefkontakt. Lange schrieb sie sich mit Andrej. Er war in Baku Arzt geworden, hatte geheiratet. Andrej wollte mit seiner Frau nach Deutschland kommen, wollte hier als Arzt arbeiten. Marion schrieb ihm, dass das nicht gehe, dass sich die Zeiten geändert hätten und dass sie für ihn bürgen müsse, wenn er käme, dass ihr Geld dafür nicht reiche. Andrej bot goldene Ringe als Bezahlung, ließ nicht locker. Da hat Marion das Schreiben seinlassen. Die Adresse und die Briefe hat sie später weggetan. Aufgehoben hat sie die Fotos: Andrej im Nadelstreifenanzug, auf der Hochzeitsfeier, mit Kumpels am Meer. Ein sehr guter Mensch war der Andrej, sagt sie. „Schade.“

Und Jakow? Er war abgehauen aus Aserbaidschan. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 war der alte Streit mit Armenien um die Region Bergkarabach neu entbrannt. Es gab Krieg. Zehntausende starben. Jakow und der Kumpel in seinem Schlepptau, der schweigsam war „wie ein Taubstummer“, wollten in Deutschland bleiben. Nach ein, zwei Tagen in Oelsa lud Marion die beiden ins Auto und fuhr sie nach Freital auf die Polizeiwache. Dort sollten sie Asyl beantragen. Das klappte auch. Jakow rief bald darauf aus dem Erstaufnahmelager in Chemnitz an. Von dort wurde er nach Bielefeld geschickt.

Einmal noch kehrte Jakow nach Oelsa zurück, wieder zur Unzeit, nachts, aber mit Blumen. Dann ging er für immer. Wohin, weiß Marion nicht. Draußen, im Wald, an einem Felsen, standen noch lange die Abschiedsgrüße der Soldaten, ihre Wohnorte und Dienstjahre, hingekrakelt mit Farbresten aller Töne. Auch ein Kussmund war dabei und daneben das Wort: „Tschüß“. Heute ist die Stelle wieder ganz steingrau und bemoost – als wäre nichts gewesen.