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Der Stuhl als Trainingsgerät

Seit zehn Jahren halten sich zwölf Seniorinnen in Lawalde fit. Mit dabei: eine 90-Jährige. Sie lässt keinen Kurs aus.

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© Bernd Gärtner

Von Susanne Sodan

Lawalde. Aus den Lautsprechern dröhnen keine treibenden Bässe. Aus dem CD-Spieler klingt Klassik. Nirgendwo eine Hantel, kein Theraband, keine Faszienrolle. Das wichtigste Fitnessgerät ist der Stuhl. Keine der elf Frauen trägt Sportkleidung aus Hightechfasern, manche dafür Ballerinas, diese weißen Schläppchen mit den ganz dünnen Sohlen. Uhren und Ketten müssen nicht abgelegt werden. Und doch ist das hier ein Sportkurs. Einmal pro Woche treffen sich zwölf Frauen im Obergeschoss des Fremdenverkehrsamtes Lawalde zum Senioren-Training, seit beinahe zehn Jahren. 65 Jahre alt ist die jüngste Teilnehmerin. Und 90 die älteste. Hildegard Hänsel heißt sie und ist von Anfang an dabei.

Die Stühle stehen im Kreis, die Frauen daneben, den Blick auf Annette Pötschke. Sie trägt Sportkleidung und besitzt eine Menge Fitness-Gerätschaften. Schließlich gibt sie in der Region insgesamt elf Sportkurse, für ganz unterschiedliche Zielgruppen, von Kindern bis Senioren. „In einem meiner Kurse trainieren ausschließlich Männer“, erzählt sie. Hanteln oder dergleichen braucht es beim Lawalder Kurs aber nicht. Erste Übung: Den Körper nach vorne beugen, so weit, bis das Gewicht nur noch auf den Fußspitzen ruht. So weit, bis man zu fallen droht – dann ganz schnell zwei Schritte nach vorne, den Fall abfangen. „Hier trainieren wir mit unserer eigenen Schwerkraft“, sagt Annette Pötschke. „Zusätzliches Gewicht wäre eher kontraproduktiv.“ Eine zu große Belastung für die Gelenke. Sich Muskeln anzutrainieren oder Kondition für einen Dauerlauf aufzubauen – darum geht es hier nicht. „Wir wollen das Vorhandene erhalten und stärken“, erklärt Annette Pötschke. Die erste Übung zum Beispiel war für den Gleichgewichtssinn. Um zu üben, was zu tun ist, wenn wirklich mal ein Sturz droht.

„Der linke Arm bleibt unten“, sagt Annette Pötschke. Die Frauen stehen hinter den Stühlen. Jetzt die rechte Schulter nach oben ziehen, den Arm eine Runde kreisen lassen. Ist die Hand wieder unten angekommen, macht der linke Arm weiter. „Nicht erschrecken, wenn es mal knackt. Das ist nur der Sand im Getriebe“, sagt die Trainerin. „Oder der Kalk“, antwortet eine der Teilnehmerinnen trocken, die anderen Frauen schmunzeln. Hier sind auch Krankenhaus- und Reha-Witze erlaubt. „Einmal Lachen pro Kurs ist bei mir Pflicht“, erzählt Annette Pötschke. Nicht nur wegen der Glückshormone. Lachen lockert. Im Grunde sind es fünf Punkte, die wir bearbeiten.“ Beweglichkeit, Gleichgewichtssinn, Augen- und Beckenbodentraining, Erhalt der Muskulatur. Zum Beispiel mit diagonalen Liegestützen, mit den Händen auf den Stuhl gestützt, statt auf den Boden. Und noch eine wichtige Übung, die etwa alle zehn Minuten ansteht: Trinken. „Gerade ältere Menschen trinken oft viel zu wenig“, sagt Annette Pötschke.

Die Lockerungsübung mit den kreisenden Armen heißt im Lawalder Kurs „Susanne-Übung“, benannt nach einer der Teilnehmerinnen. Weil Susanne die Übung nicht mag. Jede der Frauen hier hat „ihre Übung“, Bewegungen, die ihnen im Alter schwerfallen. So wie die Frauen sich seit Langem untereinander kennen, so kennt auch Annette Pötschke ihre Kursmitglieder lange. Sie weiß, was bei wem geht und was nicht. „Es ist über die Zeit ein unheimlich großes Gemeinschaftsgefühl entstanden.“ Dabei fing der Lawalder Kurs nicht erfolgversprechend an. Zum allerersten Termin vor zehn Jahren trainierte Annette Pötschke mit nur einer einzigen Teilnehmerin. „Nach ein paar wenigen Wochen war der Kurs dann aber voll.“ Mittlerweile sei er für viele der Frauen zu einer zweiten Familie geworden. „Es springt auch keiner ab“, sagt die Trainerin. Der Kurs ist eine Konstante, ein fester Termin: Mittwoch ist Sport.

So ist es auch für Hildegard Hänsel. „Bei uns herrscht eine solche Freundlichkeit. Die macht gesund“, sagt die 90-jährige Lawalderin. Sport sei für sie ihr Leben lang wichtig gewesen. „Ich habe mich einfach immer viel bewegt. Als Kind beim Schulsport, beim Fußball, beim Prellball gegen die Wand – was man eben gespielt hat. Den größten Teil ihres Lebens hat Hildegard Hänsel in Lawalde verbracht. Ursprünglich stammt sie aber aus Oberschlesien.

„Zu Kriegsende sind wir geflüchtet.“ Wir, das sind sie, ihre Eltern und zwei Geschwister. „In Lawalde hatte mein Vater einen Bauern gefragt, ob wir bei ihm übernachten dürfen.“ Die Familie blieb viel länger als eine Nacht. „Wir haben für den Bauern gearbeitet und er suchte nach einer Wohnung für uns.“ Die Familie zog in ein Haus in Lawalde. Das Haus, in dem Hildegard Hänsel noch heute lebt. Ihr Berufsleben hat sie in der ehemaligen Weberei in Schönbach verbracht. Vierzig Jahre arbeitete sie dort. Aber außerhalb des Betriebes blieb Sport ein großes Thema.

Rad fahren, das sei immer ihr großes Hobby gewesen. Eines, das heute für sie nicht mehr möglich ist. „Ich vermisse das“, sagt sie. Der Kurs bringt ein bisschen Ausgleich. „Ich brauche das, ich will nicht aufhören, mich zu bewegen.“ Auch wenn manche Übung schmerzt. „Ich versuche, mir das nicht so anmerken zu lassen.“ Den Tag, an dem es wirklich nicht mehr geht, den fürchte sie, sagt sie. Solange es also irgendwie geht, kommt sie zum Kurs. Jeden Mittwoch.