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Richtiger Mann ohne Vorkenntnisse

Der designierte Digitalkommissar Günther Oettinger stellt sich dem EU-Parlament und lässt Attacken souverän abtropfen.

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© dpa

Von Lars Radau

Martin Sonneborn hatte sich schlicht verrechnet. Der Satiriker, der für die Spaßpartei „Die Partei“ im Europaparlament sitzt, war ganz offensichtlich darauf aus, Günther Oettinger aus der Fassung zu bringen. Wie es denn der designierte EU-Digitalkommissar mit dem „Recht auf Vergessen“ im Internet halte? Ob er sich dafür einsetzen werde, dass dann eine ganze Reihe seiner Verfehlungen nicht mehr im Netz zu finden seien? Etwa Oettingers relativierende Äußerungen zur Nazi-Vergangenheit seines Vorgängers als Ministerpräsident Baden-Württembergs, Hans Filbinger. Oder die Tatsache, dass der CDU-Politiker nach einer Trunkenheitsfahrt mit 1,4 Promille seinen Führerschein abgeben musste? Und was sei mit der Tatsache, dass Oettinger als Landesvater schwäbische Inkunabeln verhökern wollte?

Die Antworten, schob Sonneborn maliziös lächelnd hinterher, hätte er gerne auf Englisch. Doch nicht einmal diesen Punkt gönnte der für seine ausbaufähigen Englischkenntnisse und seinen starken schwäbischen Akzent berüchtigte Oettinger dem früheren Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“. Mit unbewegtem Gesicht ließ der Polit-Profi die Attacke abtropfen. Er werde Sonneborns Fragen beantworten, ganz sicher aber nicht dessen Befehle befolgen, sagte Oettinger – auf Deutsch. Ja, betonte der Kommissars-Kandidat, er sei nach wie vor für das Recht auf Vergessen. Das habe die EU-Kommission nicht von ungefähr 2012 in die Diskussion gebracht – auch als Akt des Verbraucherschutzes. Es solle möglich bleiben, falsche oder auch überholte missliebige Einträge in Netz löschen zu lassen. Ja, er habe seinen Führerschein eine Weile abgeben müssen. Das sei aber mittlerweile fast ein Vierteljahrhundert her. Vergessen werden könne dieser Vorgang auch nicht, schob Oettinger ruhig hinterher – er sei ja offenkundig noch in allen Zeitungsarchiven zu finden. Und als Oettinger Sonneborn dann noch in zwei präzisen Sätzen die Frage beantwortete, was eigentlich Inkunabeln sind – historische Drucke – , stand der Satiriker endgültig als mäkelnder Kleingeist da.

Dass die Anhörung der designierten EU-Kommissare, der sich Oettinger am Montagabend stellte, keine vergnügungssteuerpflichtige Veranstaltung ist, weiß der künftige Digitalkommissar schon seit mindestens fünf Jahren. Auch als Kandidat für den Posten des Energiekommissars hatte er sich grillen lassen müssen. Drei Stunden werden die Bewerber von den Abgeordneten der für ihr Gebiet zuständigen Ausschüsse auf ihre fachliche und persönliche Eignung geprüft. Und im Zweifelsfall können die Parlamentarier den Anwärter auch durchfallen lassen.

Diese Gefahr droht Oettinger wohl eher nicht. Zwar ist in der Netzgemeinde die Aufregung groß, dass ausgerechnet ein 60-jähriger Mann, der von sich selbst sagt, er sei kein „Digital Native“, nun für das Digitale zuständig sein soll. Jan Philipp Albrecht etwa, Netzexperte der Grünen im Europaparlament, verwies darauf, dass Europa mitten „in einem reißenden Fluss namens Digitale Revolution“ stehe. Dass Oettinger hier grundlegende Kenntnisse fehlten, sei fatal. „Es ist ein Unterschied, ob ich mich generell in diesem Umfeld bewege – oder ob ich als Kommissar für die Gestaltung dieser Transformation zuständig bin“, betonte Albrecht.

Das indes sehen Parteifreunde des Komissars-Anwärters nicht so eng. Der CDU-Politiker Reiner Wieland, einer der Vizepräsidenten des EU-Parlaments, verwies auf die „steile Lernkurve“, die Oettinger schon als frisch gebackener Energiekommissar absolviert habe. Selbst politische Gegner gestehen Oettinger großes Engagement zu, wenn es darum gehe, sich in Themen einzuarbeiten.

Diese intensive Vorbereitung ließ Oettinger auch am Montagabend bei vielen seiner fast 50 Antworten auf die Abgeordnetenfragen durchscheinen. Das Korsett der Hearings ist streng: Oettinger durfte sich und seine Pläne zum Auftakt exakt 15 Minuten vorstellen. Dann waren die Parlamentarier dran: Sie haben eine Minute Zeit für ihre Frage, die der Kandidat dann in maximal zwei Minuten beantworten muss. Gefälligkeits- und Plattformfragen gab es kaum, kritisches Nachhaken dafür umso mehr. Gleichwohl gelang es Oettinger ohne Probleme, seine Kernbotschaften zu platzieren.

Eine davon: Europa drohe im internationalen Digital-Wettbewerb abgehängt zu werden. Bereits jetzt könnten die zehn größten IT-Unternehmen der USA von ihrer Kapitalkraft her die 50 bis 80 größten IT-Firmen Europas übernehmen. „Da steckt ein Gefahrenpotenzial, das man in keiner Form unterschätzen darf“, warnte Oettinger. „Wir müssen jetzt die Aufholjagd beginnen.“ Dazu gehöre nicht nur, dass junge europäische IT-Unternehmen „gute Startbedingungen“ bräuchten. Auch die „digitale Fragmentierung“ der 28 EU-Staaten müsse überwunden werden – am besten mit einem „digitalen Binnenmarkt“, in dem die nationalen Player und Behörden zusammenarbeiten. Erst dann, so Oettinger, gebe es die Chance, dass es eines Tages auch „so etwas wie ein europäisches Google“ geben könne.

Zwar hatte der Kommissars-Kandidat diese Aussage nur als Metapher für den Geschäftserfolg verwenden wollen – sich damit aber zugleich eine Debatte um die Freiheit des Internets eingehandelt. Das „Recht auf Vergessen“ war da längst abgehakt, die Abgeordneten fragten Oettinger nach seiner Haltung zur Netzneutralität. Dahinter steht das Prinzip, dass Internetanbieter bestimmte Daten nicht schneller als andere durchleiten dürfen – was andere Dienste verlangsamen könnte. Oettinger machte klar, dass aus seiner Sicht „nicht derjenige Kunde benachteiligt werden darf, der weniger zahlt.“ Eine Abweichung von der Netzneutralität dürfe es nur dort geben, „wo es um öffentliche Interessen geht und nicht um ein Geschäftsmodell.“