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Der Protest geht weiter

Die Ultras demonstrieren in den Stadien einheitlich gegen den DFB. Beide Seiten haben sich weit voneinander entfernt.

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© dpa

Von Ronny Blaschke

Trotz der Initiative von DFB-Präsident Reinhard Grindel haben zahlreiche Fans beim Bundesliga-Auftakt gegen den Verband protestiert. Auf Plakaten und mit Gesängen machten sie ihren Unmut über den Deutschen Fußballbund (DFB) deutlich. Beim Eröffnungsspiel am Freitag skandierten die Anhänger von Bayern München und Bayer Leverkusen gemeinsam Parolen. In der Südkurve protestierten die Bayern-Fans zugleich mit Plakaten gegen von ihnen abgelehnte Entwicklungen und Zustände: „Korruption, Halbzeitshow, Auslandsvermarktung, Sportgerichtsbarkeit.“

Auch in Wolfsburg brüllten die Fans des VfL und von Borussia Dortmund vor dem Spiel minutenlang im Kanon „Scheiß DFB“. In der VfL-Kurve hingen Plakate mit der Aufschrift: „Was uns an euch stört ... Eure Zerstückelung des Bundesligaspieltages! Pro samstags 15:30“ und „Fick dich DFB“. Ebenso hatte es bei Partien der 2. Bundesliga Demonstrationen gegen den Verband gegeben – so auch in Dresden. Immerhin war es friedlich geblieben. In den Wochen zuvor hatten Teile der Ultras noch martialisch vom „Krieg“ gegen den DFB geredet.

Der DFB wird von den Ultras, den leidenschaftlichen, lautstarken, farbenfrohen Fans, für die Kommerzialisierung verantwortlich gemacht, für häufig wechselnde Anstoßzeiten, astronomische Spielergehälter oder Relegationsspiele. Ihre Pyrotechnik wird zum Protestmittel. Wieder einmal fragen Medien, ob das Stadion für Familien noch sicher ist. Wieder fordern Politiker wie Innenminister Thomas de Maizière von der Justiz eine „harte Kante“. Was dabei kaum diskutiert wird, sind die Ursachen für die Polarisierung – und die eigenen Versäumnisse.

Die drei oberen Ligen zählen pro Saison mehr als zwanzig Millionen Besucher. Laut Schätzungen gehören der Ultra-Kultur nur rund 25 000 Mitglieder an. In der Szene unterscheiden sich Bildung, politische Haltung und Gewaltbereitschaft enorm. In Extremfällen wie vor einer Woche beim Pokalspiel in Rostock schaden radikale Minderheiten von 20, 50 oder 100 Leuten ihrer ganzen Vereinskultur. Die interessante Frage für die gerade begonnene Saison: Wie reagiert die moderate Stadionmehrheit, wenn sie die Kritik der Ultras zwar teilt, aber nicht deren Protestgebaren? Im Ostseestadion skandierten Tausende: „Und ihr wollt Hansa Rostock sein?“

Noch vor sechs, sieben Jahren gab es einen ordentlichen Austausch zwischen Fans und Verbänden. 2011 ließ der DFB den Dialog über eine mögliche Legalisierung von Pyrotechnik abreißen, die Ultras fühlten sich in die Irre geführt. Dabei zeigen die Ligen in Dänemark, Norwegen oder in den USA, dass legale Feuerwerke das Stadionerlebnis bereichern können, wenn Fans, Verbände und Behörden sich auf Material und Sonderzonen einigen.

Damals zerstritten sich viele deutsche Ultra-Gruppen über jene Themen, der Druck untereinander wuchs. In dieser Dynamik ging etwas unter: In Aachen, Braunschweig oder Duisburg wurden Ultras, die sich gegen Diskriminierung gestellt hatten, von rechten Hooligans attackiert, begünstigt durch den wachsenden Rechtspopulismus. Von Vereinen und DFB erhielten die Opfer kaum Unterstützung. Man interessierte sich wenig dafür, weil Konflikte nicht vor Stadionkameras eskalierten. Entmutigt kehrten kreative Wortführer der Ultrakultur den Rücken – und Gewaltbereite fühlten sich zur ihr hingezogen.

Die Schlagzeilenspiralen wurden seither um Begriffe ergänzt. Politiker forderten polizeiliche Datenbanken, Reiseverbote, Handyüberwachung. Vereine kümmerten sich lieber um ihre Vermarktung in Asien und Nordamerika. Kaum jemand interessierte sich für das Spendensammeln oder die Gedenkstättenfahrten vieler Ultras. Stattdessen wurde eine komplexe Jugendkultur auf Brandstiftung reduziert. Das förderte die Abschottung der Ultras.

Positive Kräfte stärken

Da eine Eskalation nicht mehr unwahrscheinlich ist, wirbt der DFB-Präsident für einen Dialog und spricht sich gegen Kollektivstrafen aus. Kritische Bündnisse wie ProFans zeigen sich wieder gesprächsbereit. Und jenseits des Aktionismus? Die eigenen Strukturen hinterfragt Grindel nicht: In der Verbandshierarchie hat die kleine Abteilung für Fan-Angelegenheiten kaum Einfluss, stattdessen beanspruchen Juristen und ehemalige Polizisten die Deutungshoheit. Die Deutsche Fußball-Liga ist fortschrittlicher aufgestellt, mit einer wachsenden Abteilung und etlichen Projekten, die positive Ultra-Kräfte stärken sollen.

Die europäischen Ligen beneiden Deutschland um ein einmaliges Netzwerk von sechzig sozialpädagogischen Fanprojekten, deren Jahresetat liegt zusammen bei mehr als elf Millionen Euro, finanziert durch DFB, DFL und Kommunen. Aber: Die regelmäßige Skandalisierung erhöht den Handlungsdruck auf Politik und Vereine, die ihren Frust oft auf Fanprojekte abwälzen. Einige Sozialarbeiter geben daher ihren Job schnell auf, langfristige Jugendarbeit mit Ultras ist schwer möglich.

In der vorigen Saison hat das Sportgericht in den oberen drei Ligen fast zwei Millionen Euro an Strafen ausgesprochen. Noch immer fehlt das Bewusstsein, dass diese Summe mit Prävention geringer hätte ausfallen können. Selbst reichere Klubs wollen wenig Geld für eine wissenschaftliche Beratung ausgeben. Erfolgreiche Projekte wie „Lernort Stadion“ wären ohne die Anschubfinanzierung der Robert-Bosch-Stiftung gar nicht erst entstanden.

Ob Fußball und Politik nach der Aufregung einsehen, dass Fankultur und Stadtgesellschaften nicht voneinander zu trennen sind? Ultras tragen ihre Sorgen aus dem Alltag ins Stadion – und umgekehrt wieder zurück. Sie können in der Kurve viel verinnerlichen: Schimpftiraden und Gewaltformen. Aber auch Solidarität und Kreativität. Laut der Shell-Studie von 2015 äußern 41 Prozent der deutschen Jugend ein Interesse an Politik, 2002 lag dieser Wert noch bei dreißig Prozent. Aber ihr Interesse an starren Parteien ist gering.

Viele Jugendliche fühlen sich zu den Ultras hingezogen, weil sie dort Emotionen und gesellschaftliche Ziele verbinden können, zum Beispiel das Wirken gegen Homophobie. Die kommenden Wochen können darüber entscheiden, ob diese fortschrittlichen Kräfte gestärkt oder entmutigt werden. Das würden die Vereine zu spüren bekommen. Aber auch Arbeitgeber, Unis und Familien. Denn dort verbringen Ultras den Großteil ihrer Zeit. (mit dpa)