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Der Osten unter falschem Verdacht

Die Regionalstudie über Rechtsextremismus weist erhebliche methodische Mängel auf – und schürt so Vorurteile und Unmut. Ein Meinungsbeitrag der Reihe „Perspektive“.

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© ddp

Von Tom Mannewitz und Tom Thieme

Offenkundig hat Ostdeutschland im Allgemeinen und Sachsen im Besonderen ein Rechtsextremismusproblem, will die Serie an fremdenfeindlichen Aufwallungen nicht abrei-ßen. Die Wahlerfolge der rechtsextremen NPD, der jährliche Missbrauch des Gedenkens an die alliierten Luftangriffe auf Dresden 1945 durch Neonationalsozialisten am 13. Februar, Sachsen und Thüringen als Sozialisations-, Operations- und Rückzugsraum des sogenannten NSU, ein erhöhtes Maß an politisch motivierter Kriminalität (PMK) sowie seit 2015 überproportional viele Angriffe auf Asylheime und Migranten – an eine zufällige Häufung wollen selbst hartgesottene Verteidiger eines positiven Sachsenimages nicht mehr glauben. An der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Erklärung der Schattenseiten des hiesigen politischen Klimas kann es keinen Zweifel geben.

Das Wirtschaftsministerium gab daher im Frühjahr 2016 beim Göttinger Institut für Demokratieforschung die Regionalstudie „Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland – Ursachen, Hintergründe, regionale Kontextfaktoren“ in Auftrag, deren Ergebnisse vergangene Woche präsentiert wurden. Ziel ist nach Aussage der Ostbeauftragen Iris Gleicke (SPD) gewesen, einerseits die Ursachen „schonungslos und ohne Tabus“ aufzudecken, andererseits aus den Ergebnissen konkrete Schlussfolgerungen für die Stärkung der Demokratie und der Toleranz und für den aktiven Kampf gegen Rechtsextremismus in Ostdeutschland zu ziehen. Doch die beiden hehren Anliegen wurden aufgrund gravierender methodischer und handwerklicher Mängel nicht nur verfehlt, sondern schlimmer noch: Das Zu- und Vertrauen in (sozial-)wissenschaftliche Forschung hat massiven Schaden genommen.

Zweifel weckt zunächst die Aussagekraft der Daten. Zwar können 40 Interviews zu aufschlussreichen Ergebnissen führen, doch sind diese nicht repräsentativ. Die drei untersuchten Orte (Freital, Heidenau, Erfurt/Herrenberg) stehen wahrlich nicht paradigmatisch für den gesamten Osten. Und: Wer wurde überhaupt befragt? Das Gros der zivilgesellschaftlichen Initiativen stammt aus dem linken Spektrum. Zudem weigerten sich Landesregierung wie AfD, an einer Studie teilzunehmen, bei der sie vermutlich nicht gut wegkommen.

Das ist den Göttingern nicht anzukreiden. Es darf dann allerdings kein Eindruck eines gesellschaftlichen Querschnitts entstehen, zumal die Befragten zum Teil über Postwurfsendungen rekrutiert wurden. Eine solche Form des „self-recruitment“ findet in der Forschung kaum Anwendung, weil sie sogenannte „Incentive-Jäger“ und „Profibefragte“ anzieht. Sie verstößt gegen zentrale Regeln der Stichprobenziehung. Auch deshalb ist nicht jede Äußerung der Interviewteilnehmer für bare Münze zu nehmen. Wer überdies beim Thema Rechtsextremismus die Antifa als Informationsquelle einbezieht, präjudiziert das Ergebnis.

Kaum weniger schwer wiegen die Pannen bei der Anonymisierung. Es handelt sich zwar um eine gängige Praxis in den Sozialwissenschaften. Nur sollten einerseits die Wünsche der Gesprächspartner nach Nennung der KIarnamen berücksichtigt werden (Kerstin Köditz); andererseits muss hervorgehen: Wo wurde anonymisiert, wo nicht? Dass sich schließlich die Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung gegen die Verfasser der Studie wendet, weil ein angeblicher Mitarbeiter das Kaiserreich und die Mauer positiv gewürdigt haben soll, ist verständlich: Gab es womöglich eine Verwechslung? Der Vorwurf der Diktaturverherrlichung wiegt schwer.

Der Pferdefuß der Studie ist jedoch nicht der handwerkliche Schlendrian, sondern der fehlende Vergleich. Nur er kann das Besondere vom Allgemeinen trennen, ungeprüfte Verallgemeinerungen kontrollieren. „Ursachen und Hintergründe für Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindlich motivierte Übergriffe in Ostdeutschland sowie die Ballung in einzelnen ostdeutschen Regionen“ ohne komparative Perspektive aufspüren zu wollen, kommt der Quadratur des Kreises gleich. Wie wollen die Forscher nachweisen, ob der Nährboden für Rechtsextremismus tatsächlich nur in einigen Regionen Sachsens und Thüringens existiert, ohne auch andere Landstriche der Bundesrepublik zu vermessen? Und wieso wird die Steigerungsform – „stärker“ ausgeprägte Regionalfaktoren im Osten – verwendet, wenn der Westen gar nicht Gegenstand der Untersuchung ist?

Um einen Einblick zu geben: Wenn eine – angebliche – „spezifische, von der CDU dominierte politische Kultur […], die das Eigene überhöht und Abwehrreflexe gegen das Fremde, Andere, Äußere kultiviert“, für „den“ Rechtsextremismus im Freistaat verantwortlich sein soll – warum ist dann nicht Bayern eine braune Hochburg, wo doch die deutlich konservativere CSU seit über 70 Jahren einen bayerischen Lokalpatriotismus pflegt? Die sächsische Landesregierung muss sich zu Recht vorwerfen lassen, in der Vergangenheit nicht immer entschieden genug gegen Rechtsextremismus vorgegangen zu sein. Dass sie indes die politische Kultur im Freistaat (wie in einer Diktatur) bestimmt und die „sächsische Identität“ rechtsextreme Einstellungen und Handlungen begünstigen soll, dafür fehlen glaubwürdige Beweise.

Die Autoren zeichnen das Bild der politischen Kultur eines Bundeslandes auf der Grundlage von Untersuchungen in gerade einmal zwei Kleinstädten. Wenig lässt sich daraus schließen, schon gar nicht, warum sich die „fraternale relative Deprivation“, also der Eindruck der sozialen Benachteiligung in Freital, Heidenau und Erfurt-Herrenberg Bahn bricht, andernorts in der Bundesrepublik jedoch nicht. Wenn für „den“ Osten tatsächlich rigides Denken so typisch ist (eine steile These, handelt es sich doch um eine Persönlichkeitseigenschaft), wäre es aufschlussreich zu wissen, warum es dann besonders in Freital und Heidenau zu Gewaltexzessen kam. Offenkundig gibt es fundamentale Unterschiede zwischen Einstellungen und Handlungen, aber auch zwischen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. All diese Aspekte unterschlägt die Studie.

Die methodischen Defizite determinieren die Ergebnisse. Was die Autoren im Theorieteil an seit den 1990er-Jahren weithin bekannten Variablen zur Erklärung rechtsextremer Einstellungen und Verhaltensweisen referieren, lassen sie sich anschließend von ihren Interviewpartnern bestätigen. Wer könnte daran zweifeln, dass diese Faktoren eine Rolle spielen: die sozialistische Vergangenheit und die Schwierigkeiten ihrer Bewältigung, eine in der SED-Diktatur „von oben“ verordnete Völkerfreundschaft anstelle tatsächlicher Freund- und Bekanntschaften zu Ausländern, eine speziell im Osten ausgeprägte Politikverdrossenheit, Gefühle von Benachteiligung, Stadt-Land-Gegensätze sowie das unmittelbare soziale bzw. lokale Umfeld?

Die Argumente überzeugen intuitiv, doch sie halten der näheren Prüfung kaum stand. Denn wer nur auf die „Hotspots“ schaut, wird aus den Ereignissen kaum schlau. Wer wiederum argumentiert, es sei die Melange all jener Defizite, redet Ad-hoc-Erklärungen das Wort. Da aber weder Gewichtungen (welcher Aspekt wirkt wie stark?) noch nennenswerte regionale Differenzierungen (was wirkt in Problemgebieten, was anderswo keine Rolle spielt?) vorgenommen werden, verharren die Ergebnisse auf dem Niveau von Allgemeinplätzen und Banalitäten. Zugleich suggeriert die Untersuchung das Gegenteil.

„Lösungsvorschläge mit erhobenem Zeigefinger und Belehrungen vom grünen Tisch aus dem vermeintlich so viel weltoffeneren Westen der Republik sollten tunlichst unterbleiben“, empfahl Iris Gleicke bei der Pressekonferenz zur Veröffentlichung. Doch wenn die Studie schulmeistert, das „Bedürfnis nach einer kollektiven Identifikation mit einer möglichst positiven, moralisch ‚sauberen‘ regionalen Identität“ sei bereits ein Anzeichen für rigides Denken, steht die Mehrheit der (Ost-)Deutschen unter Verdacht, zumindest latent rechtsextrem zu sein. Im besseren Fall verhallen derlei Diskreditierungen ungehört; im schlechteren verstärken sie ostdeutsche Befindlichkeiten und wirken in diesem Sinne kontraproduktiv.

Die theoretischen, handwerklichen und methodischen Mängel erwecken den Eindruck, hier wurde mit heißer Nadel gestrickt. Das ist bedauerlich, denn viel zu selten (und immer seltener) greifen Sozial- und Politikwissenschaftler aktuelle und gesellschaftlich umstrittene Themen auf – sei es aus Angst (nur nichts Falsches schreiben), sei es aus Opportunismus (was nutzt mir eine solche Veröffentlichung?). Vor diesem Hintergrund ist die BMWi-Analyse zu begrüßen, müssen auch – anders als es sich Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haselhoff vorstellt – Reizthemen gegenüber der Rücksichtnahme auf regionale Befindlichkeiten beackert werden. Doch darf Relevanz nicht zulasten von Qualität, Aktualität nicht zulasten von Sorgfalt gehen. Grundfragen zu (Rechts-)Extremismus und gesellschaftlicher Identität sind heikel; bedürfen Fingerspitzengefühls anstelle holzschnittartiger Verallgemeinerungen. In diesem Sinn hat die Göttinger Studie der Demokratie und ihrer Erforschung einen Bärendienst erwiesen.

Unsere Autoren: Tom Thieme, 1978 in Karl-Marx-Stadt geboren, hat Politikwissenschaft, Soziologie und Sozial- und Wirtschaftsgeografie an der TU Chemnitz studiert und ist dort seit 2013 Privatdozent.

Tom Mannewitz, 1987 in Wurzen geboren, hat Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft an der TU Dresden studiert und ist seit 2014 Inhaber der Juniorprofessur Politikwissenschaftliche Forschungsmethoden an der TU Chemnitz.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen.