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Der nette Herr Stolpe

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Kommentare und Analysen zu aktuellenThemen. Texte, die aus der ganz persönlichen Sicht des Autors Denkanstöße geben, zurDiskussion anregen sollen.Heute: Der frühere DDR-Bürgerrechtler Günter Nooke über den Umgang mit der Stasi in Brandenburg: Ob Stolpe, Bisky, Diestel – keiner hatte Interesse an einer Aufarbeitung der Vergangenheit. Nooke erklärt, wie nach der Wende ein Klima der Verklärung entstand.

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Von Günter Nooke

Als 1992 die Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR für SED-Opfer und Journalisten öffentlich zugänglich wurden, war der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Manfred Stolpe, der beliebteste ostdeutsche Politiker mit Zustimmungsraten in der Bevölkerung um die 85 Prozent.

Diese populäre Ost-Autorität entstand in einer Dreiecksbeziehung mit Bürgern und Medien. Selbst der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte im Spreewaldkahn neben ihm keine Chance: Stolpe rief dem Mütterchen im Garten zu, wie toll doch ihr Phlox blühe, und hernach berichteten viele Journalisten begeistert von der Landpartie. Dabei ist irrelevant, ob Stolpes Stärke, auf Menschen einzugehen, authentisch, angelernt oder beides war. Kurt Biedenkopf in Sachsen wusste, wie man gute Politik macht und erklärt. Aber nur der gelernte DDR-Bürger, wie sich der ehemalige Konsistorialpräsident gern selbst nannte, konnte fühlen wie Ostdeutsche.

Am 18. Januar 1992 berichtete der „Spiegel“ vorab über die konspirativen Stasikontakte des brandenburgischen Ministerpräsidenten. Doch keiner wollte das wissen oder gar glauben. Selbst Bürgerrechtler wie Rainer Eppelmann und Marianne Birthler äußerten sich in den ersten Tagen relativierend. Nur sehr wenige Journalisten berichteten kritisch zur Vergangenheit Stolpes, selbst solche, die zuvor viele Stasifälle zu enthüllen halfen. Kaum ein relevanter ostdeutscher O-Ton war zu hören.

Die Revanchisten aus Bayern

Diesen netten SPD-Ministerpräsidenten wollten alle behalten! Stolpe war doch anders als die, die in Thüringen (Duchac), Sachsen-Anhalt (Gies) und Mecklenburg-Vorpommern (Gomolka) gehen mussten. Und als in „Report München“ Heinz-Klaus Mertes nach einem gut recherchierten Beitrag zur Rolle Stolpes bei der Loslösung der Evangelischen Kirche in der DDR von der West-EKD am Montagabend des Erscheinens des „Spiegel“-Artikels Manfred Stolpe in die Augen sagte, er werde zurücktreten müssen, da erklärte sich auch der letzte zweifelnde Ossi – zumindest in Brandenburg – solidarisch: Wir lassen uns doch von den Revanchisten aus Bayern nicht vorschreiben, wer bei uns Ministerpräsident sein darf.

Wir können uns diese Situation heute nur schwer vorstellen. Die Betroffenheit auf allen Seiten war riesig. Die zur Verteidigung Stolpes aufgestellte Taskforce in der Staatskanzlei in Potsdam, von Kritikern als „AG Heiligenschein“ verspottet, leistete exzellente Arbeit. Selbst Bundespräsidenten sprachen mit Chefredakteuren, und ein schon fertig geplanter ARD-Brennpunkt wurde keine Stunde vor Beginn der Sendung wieder abgesetzt.

Was geschah, war die permanente Verschiebung der Akzeptanzschwelle im konkreten Einzelfall Stolpe. Es hatte nichts mit seinem Einsatz für Bürgerrechtler zu tun, wenn in konspirativen Wohnungen bereitwillig „Aufträge“ der Führungsoffiziere der Stasi entgegengenommen und erfüllt wurden! Aber die immer eindeutiger zutage geförderten Fakten über die Stasizusammenarbeit des Ministerpräsidenten störten die fortlaufende Relativierung nicht.

Spätestens im Herbst 1992 hatten der „Brandenburger Weg“ und viele Stasiberichterstattungen ein übles Völlegefühl im Osten erzeugt. Fast alle Bürger waren überzeugt: Es reicht jetzt. In Brandenburg kam noch hinzu: Der Vorsitzende der PDS-Fraktion und des Stolpe-Untersuchungsausschusses, Lothar Bisky, dessen Partei zum Jahreswechsel 1991/92 in Umfragen bei sechs Prozent lag, wusste: Bleibt Stolpe, bleibt meine Partei.

Die Nähe zu den DDR-Spitzeln

Der Vorsitzende der anderen Oppositionsfraktion, der CDU, Peter-Michael Diestel, kämpfte nicht gegen Stolpe, sondern für seine Mandanten aus Ministerien und bewaffneten Organen der DDR: Wenn Stolpe gewinnt, werden die alle in den Dienst zurückgeklagt. Und der ehemalige bundesdeutsche Chefdiplomat und Justizminister Hans-Otto Bräutigam deckte die Westflanke ab und ersparte vielen Westdeutschen das peinliche Bekenntnis: Wir haben den Diktatoren und Spitzeln der DDR viel zu viel erzählt und standen ihnen oft sogar mental oder politisch nahe.

In Potsdam konnte ein Generalstaatsanwalt, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, sagen: Man ermittelt nicht gern gegen den, der die eigene Ernennungsurkunde unterschrieben hat. Auch die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg und ihre Kirchenleitung, die zu über Dreivierteln aus SPD-Mitgliedern bestand, waren an Vergangenheitsaufarbeitung nicht interessiert. Denn es wäre dann nicht nur um Stolpe gegangen.

So entstand ein Klima der Verklärung und Relativierung der zu DDR-Zeiten einfachsten Sachverhalte. Während fast alle Politgrößen der alten Bundesrepublik Stolpe vor dem Untersuchungsausschuss verteidigten, sprach als einer der ganz wenigen der mecklenburgische Bischof, Christoph Stier, aus, wie er früher das „Wirken Stolpes“ bezeichnet hätte – als Spitzeltätigkeit. Das aber waren absolute Ausnahmen, die medial kaum vermittelt wurden. Interesse, geschweige denn eine Mehrheit zur Geschichtsaufarbeitung war weit und breit nicht zu finden. Und ich wollte mit gleichen Maßstäben messen und sah politisch wenig Legitimation, gegen andere vorzugehen, solange die Brandenburger ihren Landesvater behalten wollten.

Man muss sich heute wundern und freuen über das aufgeregte Interesse an dem, was vor zwanzig Jahren in Brandenburg alles nicht geschah. Die Ostdeutschen fühlten sich fremd im vereinten Deutschland; nicht nur ohne Arbeit oder mit westdeutschen Chefs, sondern auch ohne ihre als integer geglaubten Autoritäten aus Medien, Sport, Kirche und Kultur. Am ehesten kann man heute, kurz nach dem Fall Guttenberg, noch die SPD verstehen, die auf ihren einzigen ostdeutschen Medienstar und Hoffnungsträger in der Bevölkerung nicht verzichten wollte, auch wenn der weit mehr getan hatte, als Teile einer Dissertation zu plagiieren.