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Der Mörder seines Vertrauens

„Popeye“ tötete für den Drogenboss Pablo Escobar. 250 Morde gehen auf sein Konto, vielleicht auch mehr. 23 Jahre saß er im Gefängnis, und nun will er in die Politik.

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© dpa

Von Georg Ismar, Medellín

Männer erheben sich ehrfürchtig vom Frühstückstisch, als „Popeye“ den Salon betritt. Er schüttelt Hände, lacht, auf beiden Armen steht groß eintätowiert: „El General de la Mafia.“ Er geht nach draußen zu den Tischen am Pool, eine junge Kolumbianerin kommt, sie bittet ihn um ein Foto, ihre Stimme zittert. „Sind Sie wirklich ,Popeye‘?“ Er nimmt sie für das Foto in den Schwitzkasten und grinst.

Jhon Jairo Velásquez alias „Popeye“ hat beste Manieren, schaut immer die Leute an, dankt höflich, ein Gentleman. Jhon Jairo Velásquez ist aber auch ein Mörder von rund 250 Menschen. „Vielleicht waren es auch mehr, aber ich will mich jetzt nicht über die genaue Zahl streiten.“ Er war die rechte Hand von Kolumbiens Kokainkönig Pablo Escobar.

Velásquez zeigt, wie man einen Menschen am effektivsten erschießt. Zwei Schüsse, oberhalb der Augenpartie. Dann nimmt er einen Schluck frisch gepressten Orangensaft. „Das habe ich neu zu genießen gelernt.“ In diesen Genuss komme „El Chapo“ Guzmán ja leider nicht mehr – gleich mehrfach äußert er sein Mitleid mit dem in den USA inhaftierten Drogenboss aus Mexiko. Dieser wird – anders als „Popeye“ – wohl niemals mehr die Luft der Freiheit schnuppern können. Dass er hier nun sitzt, grenzt an ein Wunder. Escobar wurde 1993 erschossen.

„Popeye“ stellte sich, kooperierte mit der Justiz, berichtete über die Verbrechen des Medellín-Kartells – und ist daher seit mehr als zwei Jahren wieder ein freier Mann, auf Bewährung. Er machte Diplome im Gefängnis und führte sich vorbildlich, wie es hieß. Angst vor Racheakten? „Ich weiß aufzupassen.“ Er sagt, dass er gebüßt und bei Angehörigen von Opfern um Verzeihung gebeten habe, aber echte Reue?

Eine Frau schrie ihn jüngst auf der Straße als „Mörder, Mörder“ an „und warf mir allerhand andere Sachen an den Kopf“. Er bestreitet aber, sie daraufhin bedroht zu haben. In Armenvierteln wie dem Barrio Pablo Escobar, die das Kartell unterstützte, gibt es hingegen noch viele Sympathisanten. Er polarisiert, er ist auch ein Spiegelbild der gespaltenen Gesellschaft. Medellíns Bürgermeister Federico Gutiérrez fürchtet, dass „Popeye“ wieder ein Problem werden könnte, wie er dem Magazin „Semans“ sagte. „Das Land braucht einen Pakt, damit die Leute nicht weiter hofiert werden, die uns so viel Leid zugefügt haben, keine weitere Verherrlichung des Verbrechens“, fordert Gutiérrez.

In „Popeyes“ Zelle hing ein Bild der Jungfrau Maria – und er hat sich ein Jesus-Bildnis auf den Arm tätowieren lassen. Mit dem Gebot „Du sollst nicht töten“ hat er es aber nicht so genau genommen. Im Juni soll nach der Serie „Narcos“ über Escobar eine Serie über „Popeye“ im Streamingdienst Netflix kommen. Er hat ein Buch geschrieben und macht mit dem eigenen Mythos etwas Geld. Widmungen zeichnet er mit „Der Mörder des Vertrauens von Pablo Escobar“ – und er hat ein Stempelkissen dabei, um seinen Fingerabdruck als Signatur zu hinterlassen. Er redet so laut, dass die Leute an Nachbartischen fast alles mithören können.

„Medellín ist unsicher“, klagt er. Ausgerechnet er sei vor ein paar Monaten überfallen worden, Sonnenbrille und Uhr wurden geraubt. Zehntausende folgen ihm in sozialen Netzwerken. Auf Twitter bezeichnet er sich heute als „politischen Aktivisten und Verteidiger der Menschenrechte“, ausgerechnet. „Ich will Senator werden.“

2018 ist die nächste Wahl – allerdings müsste dafür erst das Gesetz geändert werden, mit seinen Vorstrafen darf man bisher gar nicht kandidieren. Zimperlich ist Velásquez nicht, den Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos beschimpft er als „korrupte Ratte“. Und im Kampf gegen den Kokainhandel, der ihn einst reich machte, lautet sein Rezept: „Man muss es legalisieren.“

Die Zahlen seiner Geschichte rattert er herunter, als ginge es um Fußballergebnisse. 250 Morde durch seine eigene Hand, rund 3 000 Mordaufträge. „Wir ließen 250 Bomben im Land hochgehen, haben 540 Polizisten getötet und 800 verletzt.“ Auf den Einwand, dass ein solcher Mörder in Europa sicher nicht so hofiert würde, auch wenn er 23 Jahre und drei Monate im Gefängnis abgesessen hat, entgegnet der 54-Jährige: „Esto es el trópico.“ Frei übersetzt: In Kolumbien ist halt alles etwas anders. „Ich werde bewundert, ich bin wieder ein Teil der Gesellschaft.“ Er ist ein Grenzgänger, in jeder Hinsicht. Velásquez begibt sich in einen historischen Diskurs, über den Bürgerkrieg zwischen den Liberalen und Konservativen in den 1950er-Jahren, den Ausbruch der Violencia (Gewalt) – in der Folge bildeten sich linke Guerillagruppen und rechte Paramilitärs, die sich bekämpften. Anstelle eines staatlichen Gewaltmonopols dominierte in Kolumbien jahrzehntelang das Recht des Stärkeren. Und das Recht des Geldes.

Über die linke Farc-Guerilla, die nun nach 52 Jahren erfolglosem Kampf die Waffen niederlegt, macht er sich fast etwas lustig. „Wir haben damals mit gut 2 000 Mann den Staat besiegt.“ Escobars Motto war immer: „Lieber ein Grab in Kolumbien als ein Gefängnis in den USA.“

Man ließ Politiker bis hin zu Präsidentschaftskandidat Luis Carlos Galán ermorden, um Gesetze, die die Auslieferung an die USA vorsahen, zu torpedieren. Escobar brachte den Staat schließlich so weit, dass er mit „Popeye“ und Co. in das selbst gebaute Luxusgefängnis „La Catedral“ einziehen durfte, das eher eine gemütliche Ranch war. 1992 flüchtete Escobar aber, am 2. Dezember 1993 wurde er erschossen. Die Pflege seines Grabs bei Medellín bezahlt heute sein Diener „Popeye“.

Der spricht ehrfurchtsvoll weiter vom „Patrón“, erzählt wie Escobar einmal im Karneval in Rio de Janeiro zwei Millionen Dollar verprasst habe. Um eine „Marica“, eine schöne Frau, zu Escobar zu lotsen oder selbst zu gewinnen, gab es eine eingespielte Methode. „Wir schickten eine Uhr von Cartier, Diamanten, 10 000 Dollar, Pralinen, Champagner und Blumen.“ Dazu eine Karte. „Das ist eine Einladung, nur für eine Nacht.“ Die Tage und Nächte auf der Hacienda Nápoles waren legendär.

Und wer nicht spurte, war tot. Am Eingangstor hing das erste Flugzeug, mit dem Escobar Kokain geschmuggelt hatte. Für den berühmten Zoo wurden Nashörner, Elefanten, Tiger, Flusspferde und Zebras herbeigeschafft. „Popeye“ war in jungen Jahren bei der Marine, dann schlug er sich als Leibwächter durch – und lernte bei einem konspirativen Treffen in einem Haus in Medellín Escobar kennen.

„Popeye“ kann detailliert erzählen, wie man Kokain schmuggelte, er beschuldigt die sozialistische Regierung in Venezuela, heute einer der größten Kokainexporteure der Region zu sein. Seine Loyalität ging so weit, dass er für Escobar sogar seine Geliebte Wendy ermorden ließ – sie soll als Spionin für das Cali-Kartell gearbeitet haben. Er ließ sie in eine Bar kommen und rief dort an. Als sie zum Telefon ging, schossen ihr Komplizen von zwei Seiten in den Kopf.

Aber das alles sei vorbei. Kolumbien erlebt gerade eine historische Friedenszeit. 3,5 Millionen Touristen 2016, eines der Länder mit dem höchsten Wachstum in Südamerika. Und Medellín hat Preise gewonnen für die Bekämpfung von Armut und Gewalt, eine quicklebendige Kulturszene, Seilbahnen in die Armenviertel und eine Metro.

„Popeye“ hat einen Rat an die Jugend. „Geht einen Weg mit Disziplin, Arbeit, Studium, Kunst und Sport“, appelliert er. „Denn dem Banditen stehen letztlich nur drei Türen offen: das Gefängnis, das Krankenhaus oder der Friedhof.“ (dpa)