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Der Modetempel von Dresden

Zwei Herren haben Mitte des 19. Jahrhunderts die Schneiderkunst revolutioniert – und hielten die Konkurrenz im Zaum.

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© Sammlung Holger Naumann

Von Jana Mundus

Fast wie in Paris. Als sie am 22. Juli 1867 die Türen zu dem prachtvollen Gebäude auf der Nordstraße 20 öffnen, sind Heinrich und Gustav Adolf Müller stolz – und mit Sicherheit auch gut gekleidet. Schließlich wollen sie jungen Menschen hier beibringen, was Mode ist und wie sie genäht werden muss. Lange Jahre hatten die beiden auf ein eigenes Haus für ihre „Europäische Moden-Akademie“ hingearbeitet. Im Beisein von Oberbürgermeister Friedrich Wilhelm Pfotenhauer wird es nun offiziell eröffnet. Das kleine Modeimperium der beiden war da schon ein paar Jahre alt.

Gustav Adolf Müller war Schneider und lehrte sein Können wenig später auch anderen. Er tüftelte gern und entwickelte eine neue Zuschneidemethode. Die Schnitte konstruierte er nach trigonometrischen Messungen. In Paris ließ er sich inspirieren, und als er nach Dresden zurückkehrte, eröffnete er ein Modeatelier am Neumarkt, direkt an der Ecke zur Frauengasse. Schon bald kauften die Dresdner dort gern ein. Müller machte sich einen Namen.

Auch Heinrich Klemm war Schneider. Nach seinen Wanderjahren ging er allerdings nach Leipzig und gründete ein Zeichen-Institut für Kleidermacher. Außerdem wurde er Verleger. Sein „Illustriertes Handbuch für Herrenkleidermacher“ war ein beliebtes Fachbuch unter den Kollegen. Wenig später übernahm er die Redaktion der Modezeitschriften „Die Elegante“ und „Phönix“. Durch diese Arbeit lernte er den Dresdner Müller kennen. Im Jahr 1849 wurde die gemeinsame Idee für eine Akademie geboren, die angehende Schneidermeister ausbildet. „Denn was der Eine übersieht, entdeckt der Andere, nur so wird etwas Vollkommenes“, schreibt Klemm.

Am 1. Juli 1850 gründen sie ihre „Deutsche Akademie der Höheren Bekleidungskunst“. Der Unterricht findet zunächst in Müllers Haus am Neumarkt statt. Zwischen 30 und 100 Taler kostet die Ausbildung. Die Teilnehmer des Lehrgangs erhalten Unterricht in Buchführung, Rechnen, Schreiben, Stilistik, Sprachen und natürlich Müllers Zuschnittsystem. Der achtet jedoch genau darauf, dass er sich nicht die eigene Konkurrenz heranzieht. Vertraglich müssen die Schüler versichern, dass sie das erlernte System keinem anderen lehren und in Dresden sowie im Umkreis von sechs Meilen für eine bestimmte Zeit nicht anwenden. Er sichert sich damit das Monopol in seiner eigenen Stadt.

Müller und Klemm sind erfolgreich. Gemeinsam bringen sie seit 1850 auch die „Europäische Modenzeitung“ heraus, in der auch Modebilder aus Paris gezeigt werden. Anfangs haben sie 1 000 Abonnenten, schon 1862 sind es 10 000. Noch im gleichen Jahr debattiert die Generalversammlung erstmals über die Umgestaltung in eine „Europäische Modenakademie“ und die Einrichtung eines Fonds zur Erbauung eines Akademiegebäudes. Bis dato hatten 121 Absolventen aus verschiedenen europäischen Ländern in Dresden ihren Abschluss gemacht. Am 22. Juli 1867 wird das neue Gebäude in der Nordstraße feierlich eingeweiht. Die Schülerzahlen steigen danach weiter, die Auflage der zugehörigen Zeitung wird auf 20 000 gesteigert. Im Jahr 1869 zeigen Müller und Klemm dort erstmals ein an der Akademie entworfenes kombiniertes Kostüm für den „Velociped-Sport“, das Fahrradfahren. Damals ist der Sport allerdings noch wenig verbreitet. Der Anzug macht aber trotzdem Eindruck. Die beiden Akademiegründer sind sich zwar nicht immer einig, trotzdem haben sie bis zu ihrem Tod das Wohl ihres Hauses im Blick. Müller stirbt 1884, Klemm zwei Jahre später.

Ihr Vermächtnis bleibt erfolgreich. Bei der Weltausstellung 1893 in Chicago gewinnen Akademie und Verlag mit ihren Arbeiten eine Goldmedaille. 1910 sucht sich der Verlag eigene Räume auf der Nordstraße, an der Ecke zur Prießnitzstraße. Inzwischen gibt es über 40 000 Abonnenten.

Mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ändert sich auch für die Akademie Grundlegendes. Ab sofort dürfen keine ausländischen Schüler mehr aufgenommen werden. Am 17. Januar 1938 endet die ruhmreiche Geschichte der Akademie. Gemeinsam mit der Deutschen Schneiderschule wird sie der „Deutschen Arbeitsfront“ übereignet. Der Angriff auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 vernichtet das Gebäude in der Nordstraße komplett. Den Flammen fallen auch die wertvolle Fachbibliothek und die Lehrmittelsammlung der Schneiderschule zum Opfer.