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Der Manegen-Macher

Zirkusdirektor Mario Müller Milano hat mit Löwen gekuschelt, Kubas Staatszirkus mit aufgebaut und Weihnachten ins Chapiteau gebracht. Jetzt sehnt er sich nach Ruhe.

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© Sven Ellger

Von Nadja Laske

Eine Feuerwehr ist kein Traktor. Das wusste Mario Müller-Milano schon als Dreikäsehoch. Hätte der Freund am Telefon ihm einen Oldtimer-Trecker angeboten, wäre der Zirkusdirektor wohl schwach geworden. Mit Traktoren zogen seine Vorfahren ihre Wagen übers Land. Diese schnaufenden Ackerschlepper haben es ihm angetan. Als Kind liebte er sie im Kleinformat und sammelt sie heute in stattlicher Größe. Aber Feuerwehrautos seien nicht sein Ding, sagt der 67-Jährige und legt das Handy zurück auf den kleinen Tisch.

Seine erste Tiernummer: Mario als Schuljunge und Hahnendompteur. Ausgebildet ist er als Gleichgewichtsakrobat.
Seine erste Tiernummer: Mario als Schuljunge und Hahnendompteur. Ausgebildet ist er als Gleichgewichtsakrobat. © privat
Mario Müller Milanos Mutter Sonja mit der Narbe vom Unfall mit einem Löwen im Gesicht und zwei ihrer fünf Schimpansen.
Mario Müller Milanos Mutter Sonja mit der Narbe vom Unfall mit einem Löwen im Gesicht und zwei ihrer fünf Schimpansen. © privat

Der steht zwischen zwei Polsterbänken in Milanos Zirkuswagen. Für viele Artisten sind rollende Räume wie dieser auch im Winter wandernde Wohnung. Der Chef aber nutzt seinen nur ganz selten zum Verschnaufen, zum Umziehen oder für ein ruhiges Gespräch. Zu Hause ist er in Pieschen. Gearbeitet wird von früh bis spät auf dem Volksfestgelände voller Zelte, Wagen, Maschinen und Ställe. Und in der Manege.

Vor acht Jahren hat Mario Müller Milano den Dresdner Weihnachtszirkus übernommen. Busch-Roland war wirtschaftlich am Ende. Da kam der Mann mit dem türknaufgroßen Siegelring an der rechten Hand und genug Budget, um das schwächelnde Unternehmen zu stützen. Doch Milano brachte nicht nur Finanzspritze und Ideen für ein neues Konzept mit, sondern etwas Unbezahlbares: Zirkusgene.

Aus einem großen braunen Umschlag schüttelt Milano zwei Dutzend Schwarz-Weiß-Fotos. „Mein Urururgroßvater hat den ersten Zirkus der Familie gegründet“, sagt er. Das war vor mehr als 250 Jahren. Rudolf Müller hieß er, seine Frau war im Kindbett gestorben, und er konnte seine erzgebirgische Heimat nicht mehr ertragen. Dort hatte er eine florierende Gastwirtschaft betrieben, die verkaufte er für gutes Geld und zog durch die Welt. In Ungarn traf er auf einen Zirkus, verliebte sich erst ins Schillern und Schindern dieser fremden Welt und dann in die Pflegetochter des Zirkusdirektors. Oder umgekehrt.

Sie kam angeblich aus adeligem Haus und stammte aus Mailand. So entstand der Künstlername Milano, den schon Marios Urururgroßvater prägte – auch ins Gold des besagten Siegelrings am Finger seines Nachfahren. Bis zur Mitte der 1930er-Jahre lebte die Zirkusfamilie in Ungarn und bespielte den Baikal. „Das Unternehmen war sehr erfolgreich und machte regionalen Zirkussen Konkurrenz. Das hat die Milanos bei ihnen nicht gerade beliebt gemacht“, erzählt der Zirkus-Chef in sechster Generation. Im Zuge der Umsiedlungen ins Deutsche Reich zog die Familie zurück nach Sachsen. „Aber sie konnten keinen Ariernachweis erbringen und auch mit der Berufserlaubnis gab es Schwierigkeiten.“ Als sein Vater Vilmos, später eingedeutscht Willi, eines Tages beobachtete, wie ein SA-Mann seine Schwester vom Fahrrad stieß, „vermutlich, weil sie ihm mit ihren schwarzen Haaren nicht passte“, verprügelte der Kraftakrobat ihn und zerbrach dessen Ehrensäbel. Das galt als Angriff auf die Staatsgewalt. „Insgesamt sechs Jahre Untersuchungshaft, Gefängnis und Konzentrationslager hat ihm das eingebracht. Dann wurde er begnadigt“, sagt Müller Milano. Doch als der Krieg begann, steckte man seinen Vater in ein Bewährungsbataillon, von wo aus er zur Sowjetarmee desertierte. Acht Sprachen habe er gesprochen, sei als Dolmetscher willkommen und sogar bei den Nürnberger Prozessen im Einsatz gewesen. So kann der Zirkus-Chef stundenlang aus der wechselhaften Familiengeschichte erzählen. Eine Geschichte, die sich bis heute nicht vom Zirkusleben entfernt hat.

Davon zeugt ein kleinformatiges Foto aus der Nachkriegszeit: Das Jahr 1949 ist mit Kugelschreiber auf die Rückseite geschrieben. Auf dem Sebnitzer Marktplatz steht ein weißes Wehrmachtszelt, es ist der Tag der Neugründung des Zirkus Milano nach dem Krieg – mit Reitpferden aus enteigneten Herrschaftsgütern, für schwere Dienste nicht zu gebrauchen. Die Sowjets unterstützten Unterhaltung fürs Volk mit Konzerten, Theaterstücken und eben auch mit Zirkus. Dompteure kamen vom Zirkus Sarrasani. „Der war ja schlimm ausgebombt, wie auch unser Wohnhaus, das dort stand, wo jetzt das Hotel Bellevue ist.“

Maximal 600 Plätze durfte es im Zelt geben. Mehr waren privaten Zirkusunternehmen nicht erlaubt. Später durften sie nur auf dem Land gastieren, Städte blieben dem Staatszirkus der DDR vorbehalten, der 1960 aus den Zirkuslegenden Busch, Barlay und Aeros gegründet wurde.

Als der Vater das Familienunternehmen neu aufstellte, war Mario, der zweite von vier Söhnen, gerade geboren. Milanos Mutter stammt aus Dresden. Sie hatte an der Oper Nürnberg getanzt und während ihrer Theaterferien in der Heimat seinen Vater kennengelernt. Der suchte ein Nummerngirl, sie bewarb sich, bekam den Job und wurde seine Frau – und Raubtier- Dompteurin. „Sie war berühmt dafür, dass sie ihren Kopf in den Rachen eines Löwen steckt“, sagt Milano. Die gefeierte Nummer wurde ein Albtraum: „Während einer Vorstellung schrie eine Frau im Publikum auf, die Löwin erschrak und machte das Maul zu.“ Mit schwersten Verletzungen kam Sonja Müller Milano zuerst in ein Münchner Krankenhaus und dann in eine Schweizer Spezialklinik. Es war Juli 1961, kurz vor dem Bau der Berliner Mauer. Milanos Vater nutzte seine Kontakte, um seine Frau bestmöglich behandeln zu lassen. Nach dem Unfall wollte er die Löwin weggeben. Sie war im Dresdner Zoo geboren und vom Weibchen verstoßen worden. „Meine Mutter hatte sie von Hand aufgezogen und sagte: Wenn ich aus der Klinik komme und Roja ist weg, dann gehe ich auch.“ Die Löwendame galt als so zahm und gut dressiert, dass sie im Defa-Film „Der kleine Muck“ von 1953 eine Rolle hatte. Sie blieb und wurde später Zuchtlöwin. Milanos Vater schenkte seiner Frau zur Dressur fünf kleine Schimpansen.

Der Geruch im Löwengehege ist Mario Müller Milano noch gut im Gedächtnis. Die Wärme, die von den Tieren ausging, und das Gefühl der Mähne zwischen den Fingern. „Eigentlich durfte ich nicht allein hinein. Einmal habe ich es doch gewagt und bin neben dem Löwen eingeschlafen.“ Von vorn sei nur sein Bein zu sehen gewesen, da dachten alle: Das Kind ist gefressen worden. „Das gab mächtig Ärger.“

Am liebsten hielt er nach der Schule ein Nickerchen auf dem breiten Rücken des Pferdes Friedenstaube. „Ich habe im Jahr etwa 60 verschiedene Schulen besucht“, sagt er. In so vielen Orten war der Zirkus zu Gast. Gelernt habe er nicht viel. „Die Lehrer und Schüler wollten immer, dass ich vom Zirkusleben erzähle.“ Mit 16 Jahren trat Milano mit seiner eigenen Löwennummer auf, auch Pferde dressierte er. Die Ausbildung an der Artistenschule Berlin war dennoch wichtig, für die Berufserlaubnis. Die bewahrt er bis heute sauber foliert auf.

Als die DDR-Regierung 1971 alle Privatunternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern verstaatlichte, gab Milanos Vater, der zu der Zeit rund 70 Leute beschäftigte, auf. „Er ließ seine Zirkuslizenz auslaufen, und ich machte mich mit Ponykarussell und Ponyreiten selbstständig“, sagt Milano. Auf der Dresdner Vogelwiese standen die Kinder Schlange. Mit einem Fuhrbetrieb, einem Kinderkarussell und Zuckerwatte verdiente er Geld. In Kuba half Mario Müller Milano, den Staatszirkus und eine Artistenschule aufzubauen. „Ich bin kein Kommunist. Aber ich habe alle Vorzüge genossen, die man in der DDR haben konnte“, sagt er. Volvo und Wochenendhaus, Jagdvergnügen und Devisen. Aber auch eine 980-seitige Stasiakte – voller Firlefanz, wie Milano sagt, Liebschaften und Kneipengesprächen.

Es gab schon wildere Zeiten. Die Jahre als Sprecher des Dresdner Schaustellerverbandes waren aufreibend, vor 20 Jahren gründete er einen neuen Verband und leitet ihn bis heute. Geschäftsführer des Zirkus Probst war Milano und hat in insgesamt vier Zirkusse investiert. Für die Planung des Dresdner Weihnachtszirkus reist er zu Festivals auf der ganzen Welt.

So langsam wünscht sich Milano ein ruhiges Leben. Mit Kater Moritz, der ihm einst ins Auto sprang und seitdem ein treuer Begleiter ist. Und mit seinem Rauhaardackel, der ihm ebenfalls zulief. „Sein Besitzer hatte ihn verwahrlosen lassen, da hab ich ihn für 1000 Euro abgekauft.“ Zwei Jahre noch, sagt der Zirkusmacher. Dann will er vom Ruhestand aus aufs Meer schauen.