Merken

Der Lehrer, der keine Noten gibt

Enrico Grimmer hat vor allem ein Ziel: Er soll vermeiden, dass Schüler später ihre Ausbildung abbrechen – dabei hat er selbst keine geradlinige Biografie.

Teilen
Folgen
© Sebastian Schultz

Von Antje Steglich

Nünchritz. Enrico Grimmer kennt seine Pappenheimer. „Hast du das gehört: Wenn du in Betragen eine gute Zensur kriegst, kannst du dich auch mit einer Vier in Physik bewerben“, ruft er lachend einem Jungen zu. Mit sechs anderen Jungs hat der sich gerade einen Vortrag über die Ausbildung und die Zugangsvoraussetzungen beim Elektro-Zentrum Großenhain angehört und grinst nun schuldbewusst zurück. Der nicht ganz ernst gemeinte Kommentar scheint angekommen zu sein – ganz ohne genervtes Augenrollen.

„Ich bin ja kein Lehrer und rede auch mal so, wie mir der Mund gewachsen ist“, erklärt Enrico Grimmer. Er gehört zu den 50 Praxisberatern, die derzeit im Auftrag des sächsischen Kultusministeriums und der Bundesagentur für Arbeit an Oberschulen im Freistaat tätig sind. Sie sollen den Siebt- und Achtklässlern eine „maßgeschneiderte Berufsorientierung“ bieten, heißt es vom Ministerium. Das Projekt ist Teil der Landesförderkonzeption „Erfolgreicher Übergang Schule-Beruf“, in die bis zum Jahr 2020 insgesamt 100 Millionen Euro investiert werden sollen.

Die Nünchritzer Oberschule profitiert mit Enrico Grimmer als Praxisberater seit zweieinhalb Jahren davon. „Wir möchten ihn nicht mehr missen“, sagt Schulleiter Jürgen Winkler. Denn längst ginge es nicht mehr nur darum, die Schüler zu vermitteln, sondern darum, sie „richtig“ zu vermitteln. „Der Bedarf ist riesig. Jetzt wollen wir einem Abbruch vorbauen“, sagt Jürgen Winkler und betreibt dafür mit seinen Kollegen einen hohen Aufwand.

Enrico Grimmer hat erstmals in der siebten Klasse Kontakt mit den Schülern, wenn er mit jedem Einzelnen eine sogenannte Potenzialanalyse vornimmt. Die Teilnahme ist freiwillig, betont er. Auch vergibt er keine Noten oder kontrolliert die schulischen Leistungen. Stattdessen will er herausfinden, wo die Kompetenzen und Interessen liegen. Er spricht zudem viel mit Eltern, weil sie seiner Meinung nach die Berufsentscheidung enorm beeinflussen. Und es bleibt nicht theoretisch.

Mit dem Kurs 21, den die Oberschule in Zusammenarbeit mit der Wacker Chemie AG und der Anerkannten Schulgesellschaft (ASG) veranstaltet, tauchen die Siebtklässler bereits erstmals in die berufliche Wirklichkeit ein, bevor in der achten Klasse die ersten Praktika folgen. Dann fährt Enrico Grimmer mit seinen Schützlingen auch zu Betriebserkundungen, zu Ausbildungsbörsen und -messen und organisiert in der Schule unter anderem den Berufsschultag mit, bei dem sich jetzt neben dem Großenhainer Elektro-Zentrum zwölf weitere Unternehmen aus der Region vorstellten – vom Dorfkrug Roda über Mannesmann bis zur AOK.

Wichtig sei ihm dabei, dass die Schüler so viel wie möglich vom Berufsalltag kennenlernen, um herauszufinden, was sie wollen und was nicht, sagt Enrico Grimmer. „Der Trend geht eindeutig dahin, dass sich immer weniger Schüler die Hände schmutzig machen wollen.“ Metallbau beispielsweise sei wenig gefragt, obwohl viele Firmen in der Region ausbilden. Soziale Berufe dagegen seien der Renner: Zuletzt hat sich jeder dritte Achtklässler fürs Praktikum einen Erzieherberuf ausgesucht. Das Interesse könne allerdings auch schnell umschlagen. Denn „was ich in der siebten Klasse einmal werden wollte, kann sich noch zigmal ändern“, weiß er aus eigener Erfahrung.

Enrico Grimmer ist gelernter Vermesser und kam eher zufällig über die Erwachsenbildung zur bam GmbH mit Sitz in Meißen – einem privaten Bildungsdienstleister, der einst aus der Berufsakademie Mittelsachsen hervorging. Dort legte er seine Ausbildereignung ab. Und als sich das Unternehmen für das Projekt der Praxisberater bewarb und den Zuschlag für Oberschulen in Nünchritz, Lommatzsch, Boxdorf, Stauchitz und Meißen bekam, schlug Enrico Grimmer einen neuen Weg ein – und geht seitdem jeden Tag in die Schule. Er selbst sieht sich dabei als Begleiter und Motivator. Nicht als Lehrer. Nicht als belehrend. Zumal es den einen Weg bei der Vielzahl an Angeboten und Interessen gar nicht gebe.

Ob in Nünchritz die Richtung stimmt? Enrico Grimmer ist optimistisch. Zur Zeugnisausgabe des letzten Jahrgangs hatten zumindest mehr als 90 Prozent der Schüler entweder bereits einen Ausbildungsvertrag in der Tasche oder die Zusage für eine weiterführende Schule. Ob die Ausbildung oder das Abi beendet worden, weiß man aber nur in wenigen Fällen. „Man müsste nach drei, vier Jahren noch mal mit den Schülern sprechen können. Nur so würden wir wissen, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind.“ Doch da mache der Datenschutz nicht mit.