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„Der Körper wird sich nie ganz erholen“

Prof. Andreas Maercker vom Psychologischen Institut der Uni Zürich weiß, welche seelischen Schäden die Stasi bei ihren Opfern verursacht hat.

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Andreas Maercker stammt aus Halle und hat sich intensiv mit posttraumatischen Belastungsstörungen von Stasi-Betroffenen befasst. Ein SZ-Gespräch.

Warum sind viele Opfer 25 Jahre nach der Wende nicht bereit, über ihre Erlebnisse zu berichten?

Die meisten Opfer des Ministeriums für Staatssicherheit fühlen sich heute noch beschädigt, ja traumatisiert. Es kann wiederkehrende Alpträume geben, grübelnde Gedanken, warum die Stasi einem solche Erniedrigungen angetan hat, und warum man nicht selbst genügend Kraft besitzt, dies endlich zu überwinden. Für diese Belastungen gibt es zwei Verarbeitungsmöglichkeiten: den Versuch, nicht mehr daran zu denken und darüber zu reden oder – auf der anderen Seite – zu sagen „Seht her, ich zeige Euch meine Wunden“.

Gibt es Methoden der Stasi, die besonders tiefe Narben hinterlassen haben?

Es gibt mehrere. Nur drei Beispiele: Verhöre konnten endlos fortgesetzt werden, bis zu zwölf Stunden. Aber auf Toilette gehen durfte man nicht, bis man das Wasser oder auch den Stuhlgang nicht mehr halten konnte und vor den Augen der Vernehmer sich selbst unter Qualen beschmutzte. Von den Drohungen waren diejenigen am Schlimmsten, die die Angehörigen betrafen. „Wir werden Ihre Frau auch verhaften, wenn sie nicht kooperieren“; „Wir werden ihr Kind zur Adoption freigeben, das sehen sie nie wieder“. Langfristig wirksam war bei vielen auch die Drohung: „Wenn Sie nach der Haftentlassung irgendetwas über die Haft sagen, werden wir sie ganz schnell wieder aufspüren und wieder einlochen“. Das wirkte sogar bei vielen, die in den Westen entlassen wurden und denen Angst gemacht wurde sie auch dort wieder aufzufinden und zurück zu holen.

Laut Expertengutachten fühlen sich viele Opfer in ihrer Lebensgeschichte schwer belastet. Unter welchen psychischen Nachwirkungen haben Stasi-Opfer bis heute zu leiden?

Neben Albträumen gibt es „Flashbacks“: Für eine bestimmte Zeit fühlt man sich absolut wieder in die damalige Situation versetzt und hat Angst, Ekel, empfindet Erniedrigung – und merkt nicht, dass es jetzt 25 Jahre später ist. Das passiert nach sogenannten Trigger-Reizen, wie zum Beispiel Uniformen bei Polizeikontrollen, bei Stromausfall – wenn man früher in Dunkelhaft gewesen war – oder nach einer Melodie oder einem bestimmten Geruch. Dazu kommen eine fortdauernde innere Anspannung, leichte Erschreckbarkeit, Schlafprobleme. Der Körper hat sich nie ganz erholt.

Opfer kritisieren, dass eine öffentliche psychosoziale Aufarbeitung bislang nicht erfolgt ist. Wie muss die aussehen – und was kann sie bewirken?

Opfer – wobei ich den Begriff des Betroffenen vorziehe, denn Opfer klingt zu passiv – wollen Anerkennung für das, was sie durchgemacht haben. Man will sich nicht rechtfertigen müssen, z. B. dass man als Jugendlicher aufbegehrt hat gegen die DDR. Viele Betroffene haben heute noch das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen – und den Wunsch, dass jetzt endlich nach 25 Jahren mit großem Abstand die DDR von allen als Diktatur gesehen wird, in dem ständig Recht gebrochen wurde und es keine Freiheit gab. Das junge Menschen wirklich denken: Niemals wollen wir das System wieder zurückhaben, das Menschen so etwas antun konnte.

Wie können Psychologen helfen?

Wichtig ist, nicht nur die schlimmsten Demütigungen durchzuarbeiten, sondern auch den biografischen „Faden“ davor und danach zu berücksichtigen, denn häufig haben die Betroffenen den Eindruck, dass sie nie mehr der Alte geworden sind.

Viele IM, die Freunde und Verwandte bespitzelt haben, konnten sich nach der Wende ihnen nicht anvertrauen, obwohl die Wahrheit häufig durch die Akten ans Tageslicht kam. Wie erklären Sie das Schweigen der IMs?

Sich-Wegducken und hoffen, dass es irgendwie an einem vorbeigeht, ist wohl menschlich. Im Sinne von: Es könnte ja gewesen sein, dass die Akte vernichtet wurde. Die Psyche kann schon eine Wunderkammer sein. Die Schriftstellerin Christa Wolf hat glaubhaft berichtet, dass sie ihre eigene IM-Erklärung völlig verdrängt, hatte. Bei manchen IMs wird es auch der innere Stolz gewesen sein: „Was ich gemacht habe, war richtig, aber mit dieser Meinung komme ich nicht durch“.

Gespräch: Jens Ostrowski

Alle Teile dieser Serie finden Sie unter: www.szlink.de/stasi