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Der Kampf mit den Buchstaben

Seit 20 Jahren gibt es in Pirna die Lese-Rechtschreib-Schule. Der Wunsch nach Förderung wächst – weil die Eltern sich ändern.

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Von Christian Eissner

Pirna. Anton, Elias und Fabian haben denselben Traumberuf: Sie wollen Fußballer werden. Und die Jungs haben noch etwas gemeinsam, etwas, das weit weniger beflügelnd ist. Wenn sie Texte lesen, dann fangen die Buchstaben an zu tanzen, wollen sich nicht zu Wörtern und die Wörter nicht zu einem Sinn zusammenfügen. Wenn sie schreiben, dann ist ein Wort für sie keine feste Folge von Buchstaben, sondern jedes Mal wieder eine komplett neue Herausforderung. Statt „Katze“ fließt erst „Kaze“, beim zweiten Versuch „Gaze“ und beim dritten „Gate“ aus dem Füller aufs Papier. Die drei Jungs haben eine Lese-Rechtschreib-Schwäche.

„Damit sind sie überhaupt keine Außenseiter“, weiß Ilona Scherber-Friedrich. „Ungefähr 20 bis 25 Prozent der Grundschüler sind betroffen.“ Seit inzwischen genau 20 Jahren leitet die diplomierte Legasthenie-Trainerin die Lese-Rechtschreib-Schule in Pirna. An dem Institut für pädagogische Förderung erhalten derzeit rund 120 Kinder nach ihrem regulären Schulunterricht in kleinen Gruppen professionelle Unterstützung in Schulfächern, die ihnen schwerfallen: Lesen, Schreiben, Mathematik und auch Englisch.

Anton, Elias und Fabian strengen sich zusätzlich am Nachmittag an, damit sich ihre Fehler beim Lesen und Schreiben verringern. Sie lernen Wortaufbau und Wortgliederung noch einmal komplett von vorn. „LRS-Kinder können Gehörtes nicht in Visuelles umsetzen, jeder Buchstabe, jedes Wort ist für sie eigenständig und neu“, erläutert Ilona Scherber-Friedrich. „Deshalb nutzen wir die Kombination von analytisch-synthetischer Methode und das Durchgliedern der Wörter in Silben. Und wir setzen auf Lernen mit allen Sinnen.“

Das sieht dann zum Beispiel so aus: Ein Schüler hatte immer Probleme mit dem doppelten E in „Meer“. „Auf meine Frage, welches Tier er mit dem E verbinde, antwortete er: Elefant“, erzählt die Trainerin. Also soll er sich folgendes Bild einprägen: Zwei Elefanten baden im Meer. „Er wird das Wort nie mehr falsch schreiben.“

Elias hat einen Plan B



Spätere Probleme beim Lesen und Schreiben zeigen sich oft schon im Vorschulalter, gibt Ilona Scherber-Friedrich zu bedenken. Betroffene Kinder haben schon sehr früh Schwierigkeiten beim Sprechen und in der Sprachwahrnehmung. Sie können ähnlich klingende Laute nicht unterscheiden und haben einen geringen Wortschatz. „Es mag zwar anfangs niedlich sein, wenn ein Kind ,Kraktor‘ statt ,Traktor‘ sagt. Gibt sich das im Vorschulalter nicht, dann kann es aber darauf hindeuten, dass in der Schule Probleme bevorstehen.“ Ihr Rat nach 20 Jahren Erfahrung: „Diesen Kindern sollte man sich so früh wie möglich besonders widmen, um ihnen ein Scheitern zu ersparen.“

Auch der beste Lehrer kann in einer Grundschulklasse mit 28 Kindern nicht jedem Einzelnen gerecht werden. Aber er ist oft der erste, der Handlungsbedarf erkennt und den Eltern statt zum Abwarten zum schnellen Handeln raten kann, damit sich Misserfolge nicht manifestieren. Davor, sagt Ilona Scherber-Friedrich, sollten Eltern keine Angst haben. Im Gegenteil. „Lese-Rechtschreib-Schwäche hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Es ist einfach eine Teilleistungsschwäche in der Sprachwahrnehmung, die man behandeln kann.“ Da allerdings kaum ein Schulfach ohne Lesen und Schreiben zu bewältigen ist, bleiben lese-rechtschreib-schwache Schüler nicht nur in Deutsch hinter ihren Möglichkeiten zurück und werden deshalb für minder intelligent gehalten. „Ein Fehler“, sagt Ilona Scherber-Friedrich.

Damit diese Kinder gar nicht erst in einen Teufelskreis aus Misserfolg, Kritik, Entmutigung und mangelndem Selbstbewusstsein kommen, helfe die gezielte Unterstützung. „Unsere Schüler schaffen die Anforderungen einer normalen Schullaufbahn.“ Das Interesse an der zusätzlichen Förderung, deren Bedarf in der Schule diagnostiziert werden kann, sei in den vergangenen Jahren stetig gestiegen, beobachtet die Institutsleiterin. Sie führt das auf ein wachsendes Bewusstsein der Eltern zurück, dass gute Bildung einen entscheidenden Stellenwert im Leben hat.

Anton, Elias und Fabian haben inzwischen einen Plan B, falls es mit der Fußballkarriere doch nicht so klappt wie geplant. Elias zum Beispiel liebt Tiere über alles und möchte dann Tierarzt werden. Dass ihm tanzende Buchstaben dieses Vorhaben durchkreuzen, darüber macht er sich inzwischen keine Sorgen mehr.

Für interessierte Eltern und Lehrer bietet die Lese-Rechtschreib-Schule Pirna am 29. November, 18.30 Uhr, einen Eltern-Informationsabend an. Anmeldung unter 03501 528992.

www.ipf-online.net/lrs-pirna