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Der heikle Kult mit der Zitrone

Die feine Säure gehört zur Görlitzer Weihnachtsbratwurst. Aber sie muss genau dosiert werden. Thomas Büchner ist ein Meister darin.

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© nikolaischmidt.de

Von Frank Seibel

Görlitz. Der Adventsschmaus beginnt mit lautem Gedröhne. Eine Edelstahl-Schüssel dreht sich brummend, sechs geschwungene Messer rotieren geschwind. Es ist dreiviertel sieben am Morgen. Eben hat Thomas Büchner zwei Stapel mit roten Kisten aus der Kühlkammer nebenan geholt. Eine weitere große Box schiebt er in die stählerne Eismaschine. Auf einer Ablage ruht ein Netz mit Bio-Zitronen.. Eine Etage darüber ein Regal mit weißen Kunststoff-Kanistern. Muskat steht drauf, Piment, Kardamom. So gesehen, könnte das hier auch eine Weihnachtsbäckerei sein.

Aber in der großen Schüssel wird kein Teig geknetet. In den roten Stiegen ist Fleisch. Je 20 bis 25 Kilo kleine Stücke vom Schwein; fünf Stiegen Fleisch, fünf Stiegen Fett. Und Thomas Büchner ist seit einem Vierteljahrhundert Fleischermeister mit einem der vermutlich schönsten Ladengeschäfte überhaupt, dem prächtig gekachelten Geschäft auf der Bismarckstraße. Nur im Dezember gehören Zitronen auf den Einkaufszettel des Fleischermeisters. Jeden Freitagmorgen im Advent produziert er mit seinen beiden Gesellen im Hinterhaus Weihnachtsbratwürste. Nach alter Sitte, aber mit eigenem Rezept – und ziemlich unromantisch. „Die meisten, die das sehen, sind erst mal enttäuscht“, sagt Thomas Büchner. Aber er ist froh über die modernen, computergesteuerten Maschinen aus Edelstahl. Ein großer Schrank zum Brühen und Räuchern ersetzt heutzutage eine ganze Etage, die es im Vorgängerbetrieb für diese Produktionsschritte gab.

Wer auf die Idee kam, Zitrone in eine feine Wurst zu geben, das weiß Thomas Büchner auch nicht. Ein schlesischer Brauch. Er ist damit aufgewachsen, denn seine Mutter stammt aus einer Fleischerfamilie; der Großvater hatte seine Fleischerei am Klosterplatz. Und als Büchner in den 1980er Jahren seine Lehre begonnen hat, hat er bei Klaus Nitsche am Sechsstädteplatz gelernt, wie der Kult funktioniert – nämlich gar nicht so einfach. Die Zitrone kann einem die Wurst nicht nur verfeinern, sondern auch versauen. Die Kunst beim Wurstmachen, sagt Büchner, besteht ja darin, eine Masse aus Fleisch, Fett und Gewürzen zu erzeugen, die gut „zusammenhält“ und nach dem Braten oder Brühen einen guten Biss ergibt. Und die feine Säure der Zitrone hat die Eigenschaft, die glückliche Verbindung von Eiweiß und Fett im schlimmsten Fall wieder aufzulösen. Dann wird die Wurst labberig.

Das darf nicht sein, weiß ein Görlitzer Fleischermeister. Nirgendwo sonst wird die geheimnisvolle Delikatesse hergestellt, vielleicht von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. Der Fleischer muss sein ganzes Wissen auspacken, um den Kult gut zu pflegen. Dazu gehört es, die Zitrone fein zu dosieren. Vier ganze Früchte, ungespritzt und Bio, aber trotzdem nochmal abgewaschen, reichen für eine Schüssel, in der 50 Kilogramm Fülle entstehen.

Und welcher Laie würde schon auf die Idee kommen, dass Eis zum Erfolgsrezept für gute Wurst gehört? „Wenn die Fülle nicht auf null bis zwei Grad heruntergekühlt wird, dann zersetzt sich die Wurst“, sagt Thomas Büchner. Denn beim Drehen und Zerschneiden des Fleisches entsteht Hitze, vor allem an den sechs Messern, die sich ununterbrochen durchs Fleisch wühlen. Wärme aber kann dazu führen, dass das Eiweiß im Fleisch zu fest wird. Also schüttet Thomas Büchner immer wieder größere Schippen mit gesplittertem Eis in den Kessel.

Vor dem Eis aber kommt der Spezialgeschmack. Thomas Büchner hat zwar in der Lehre das Grundrezept erfahren. Aber der 47-Jährige liebt Gewürze und kitzelt die feinsten Geschmacksnoten lieber damit heraus, als sich auf die – billigeren – Basiszutaten Pfeffer und Salz zu verlassen. Das gilt nicht nur für die Weihnachtswürste, sondern generell. Für alle Arbeitsschritte nutzt Thomas Büchner digitale Waagen. „Nach Gefühl“ läuft hier nichts. „Unsere Kunden erwarten ja eine immer gleichbleibende Qualität.“

Aber Veränderungen gibt es über die Jahre hinweg trotzdem. Immer wieder probiert Büchner Gewürze von anderen Produzenten; ja, auch dabei gebe es große Unterschiede, und nicht immer seien die teuersten Zutaten auch die besten. Und grundsätzlich verändert sich auch der Geschmack der Menschen im Laufe der Zeit. Zu Großvaters Zeiten war alles noch deftiger und fetter. Heute kommen verschiedenste Aromen und viel mehr Obst und Gemüse in den Gaumen als früher, sagt Büchner. So kann man heute mit anderen Zutaten ganz ähnliche Gefühle erzeugen als früher: zum Beispiel das Gefühl, eine einmalige Weihnachtsbratwurst mit Zitrone auf der Zunge zu haben.

Dieses „Geschmack-Lernen“ hat für einen lokalen Fleischer einen großen Vorteil. Kunden gewöhnen sich an ganz bestimmte Spezialitäten und weichen nicht so gerne auf Industrie-Wurst aus dem Supermarkt aus, die weniger Muskat und mehr Salz enthält. Aber ob sich der Kult um die gute Weihnachtswurst ewig halten wird? Zumindest werden diejenigen, die diese Fleischerkunst beherrschen, immer weniger. Vor dem Zweiten Weltkrieg, sagt Thomas Büchner, gab es in Görlitz (West und Ost) 120 selbst produzierende Fleischer. Als er in den 1980ern gelernt hat, waren es noch 30 (im deutschen Teil der Stadt). Heute kommt er beim Zählen noch auf sechs.

Aber Anlass zur Sorge gibt es nicht. Um 7.17 Uhr geht an diesem Freitagmorgen die Tür zur Wurstküche auf, und eine Verkäuferin kommt mit Beutel aus dem Laden: „Zehn Stück brauch ich“, sagt sie. Da hat Büchners Kollege Matthias Wenzel gerade mal die ersten 20 Portionen in den Darm gedrückt und abgebunden. „Das ist der Klassiker“, sagt Thomas Büchner und lacht. „Die ersten Würste sind kaum fertig, da werden sie uns schon aus den Händen gerissen.“

Im Advent ist Futterneid angebracht. Wenn die Wurst alle ist, ist sie alle. Und das kann schon Freitagmittag sein. Zu Heiligabend aber stehen Thomas Büchner und seine beiden Gesellen schon nachts in der Fleischerei und machen Würste ohne Unterlass. Bis der letzte Kunde bedient ist.