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Der gewollte Crash

Rollstuhlrugby ist der härteste Sport der Paralympics – und für einen Dresdner auch ein bisschen wie Autoscooter.

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© kairospress

Von Michaela Widder

Es kracht, rumms! Da liegt ein Dresdner kopfüber auf dem Boden. Schnell rennen drei Frauen hin und hieven den jungen Mann wieder auf seine Räder. Sekunden später geht es weiter; und wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass beim Rollstuhlrugby Rangeleien ausdrücklich gewünscht sind, erschrickt man auch nicht mehr. Der Sport erinnert an Autoscooter auf dem Rummel. Nur eben ohne diesen Gummipuffer, der den Aufprall ein wenig dämpfen könnte.

Das sind die Momente, in denen der Zuschauer beim Rollstuhlrugby-Cup in der Dresdner Margonarena hören kann, warum die Erfinder vor 40 Jahren in Kanada ihren Sport einst Murderball, also Mörderball, nannten. „Man braucht die nötige Härte, um sich den Weg frei zu machen. Es ist eine Mischung aus Taktik und Autoscooter“, erklärt Daniel Friedrich. Der 27-Jährige ist Spielersprecher vom Rollstuhlrugby-Team beim USV Dresden und gibt jetzt seinen Teamkollegen von der Auswechselbank ein paar Hinweise.

Zwischen Dresden und Hannover steht es nach der regulären Spielzeit – viermal sechs Minuten – unentschieden. Es geht in die Verlängerung, und die Mannschaft, der es nun gelingt, mit dem Ball über die acht Meter breite Torzone zu fahren, gewinnt das Spiel. Die Gäste machen den Punkt, die Dresdner fluchen.

Die junge Sportart, die erst seit Sydney 2000 paralympisch ist, können selbst die Menschen ausüben, für die der vielfältige Behindertensport nichts mehr zu bieten hat, für die beispielsweise Rollstuhl-Basketball mit ihrer Behinderung gar unmöglich ist. Die Spieler sitzen alle im Rollstuhl und sind an mindestens drei Gliedmaßen nur eingeschränkt bewegungsfähig.

Warum nur vereinzelt Frauen in der Liga auftauchen, liegt einerseits an der Härte des Sports, andererseits gibt es wohl auch mehr Männer mit Querschnittslähmungen. „Wenn ich schon allein an die ganzen Motorradunfälle denke“, sagt Friedrich. Der Thiendorfer war früher Handballer, bis an jenem Sommertag im Juni 2006 ein Badeunfall sein Leben verändert.

In der Kiesgrube Stölpchen ist er oft mit den Kumpels. An diesem Sonntagnachmittag liegen sie an einer anderen Badestelle als sonst. Kurz bevor sie aufbrechen, will er noch den Ball aus dem Wasser holen. Köpfer – wie man als Junge ins Wasser springt, wie hundertmal davor. Doch diesmal kracht er in eine Sandbank. Er spürt sofort, dass er nichts mehr spürt in den Beinen. Er geht unter. Die Jungs retten ihn.

In der Dresdner Uniklinik bekommt er am Tag später die Diagnose, die ihm selbst schon klar war. Das Rückenmark zwischen fünftem und sechstem Wirbel ist komplett zerquetscht – er ist querschnittsgelähmt. Schon drei Tage später wird der 17-Jährige in die Rehabilitationsklinik nach Kreischa verlegt. „Ich hatte doch nichts weiter, ich habe mir doch nur den Hals gebrochen.“

Er muss lernen, wie das Leben funktioniert ohne Beine, ohne Rumpfmuskulatur, mit eingeschränkter Armfunktion. Als er das erste Mal die Klinik nach Monaten verlässt, fährt der Dynamo-Fan nicht nach Hause, sondern ins Stadion. „Dort guckt dich niemand schief an, dort kann ich 90 Minuten abschalten.“

Auf die Idee, selbst wieder Sport zu machen, brachte ihn eine Physiotherapeutin in Kreischa. Ihr damaliger Freund spielte Rollstuhlrugby, „und ehe ich mich versehen konnte, war ich auch dabei“. Er gehört im Team zu den Verteidigern, die Positionskämpfe austragen. Spieler, die weniger eingeschränkt und dadurch meist auch schneller unterwegs sind, greifen an und bringen den Volleyball über die Torlinie. Mit Rugby hat dieser Sport wenig gemein, außer, dass Kontakt – in dem Fall mit dem Rollstuhl – erlaubt und erwünscht ist.

Reifenwechsel wie in der Formel 1

Für das Spiel tauscht Friedrich den Alltagsrollstuhl gegen sein Sportgerät. An den 5 000 Euro teuren Spezialgefährten, die mit einem Rammbügel aus Aluminium oder Stahl besonders robust wirken, gibt es immer mal wieder Schäden. Die schlauchlosen Reifen, die mit 16 bar aufgepumpt sind, gehen öfter kaputt. Dann wird das komplette Rad wie in der Formel 1 in Sekunden gewechselt. „Es geht bei uns schon ordentlich zur Sache“, sagt Friedrich.

Die Dresdner spielen in der Regionalliga, weil da die Wege nicht so weit sind wie in der höheren Spielklasse. Mit den Leipziger Löwen, die am Wochenende beim Turnier Dritter wurden, gibt es eine zweite Mannschaft in Sachsen. Außergewöhnlich ist, dass das reine Männerteam um Daniel Friedrich mit Romy Lehmann eine Frau als Trainerin hat. „Das läuft“, meint er.

Während der Woche wohnt Daniel Friedrich in Dresden und arbeitet als technischer Zeichner bei der Deutschen Bahn. Morgens und abends ist er auf Unterstützung von einem Pflegedienst angewiesen. Er bekommt eine Rente, aber das ist für ihn längst kein Grund, nicht arbeiten zu gehen. „So bin ich zum Glück auch nicht erzogen worden“, erzählt der Dresdner. An spielfreien Wochenenden fährt er mit seinem Kleinbus meistens nach Hause zu seinen Eltern, die nach dem Unfall ihren Dreiseithof umgebaut haben.

In der benachbarten Kiesgrube war er seit dem Unfall nicht mehr baden. Doch er fährt oft dran vorbei, sieht die Unglücksstelle. „Ich finde mich damit nicht ab, aber ich habe gelernt, damit umzugehen“, sagt er und hat für sich festgestellt: „Das, was ich vorher hatte, habe ich auch wieder: Sport, Job, Familie – nur anders.“