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Der Fischkopp in Sachsen

Fußball-Legende Joachim Streich plaudert im Schloss über seinen Torinstinkt, einen vergebenen Elfer und das Olympia-Attentat.

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© Thomas Riemer

Von Thomas Riemer

Schönfeld. Das Auto mit dem Magdeburger Kennzeichen ist das Erste, das am Donnerstag auf dem Schlosshof in Schönfeld parkt. Schon eine Dreiviertelstunde vor Beginn des Fußballtalks schaut sich Fußball-Legende Joachim Streich gemeinsam mit Ehefrau Marita interessiert um. Seit 47 Jahren sind sie verheiratet. Doch trotz Achims Popularität: Ein Traumschloss wurde ihnen in der DDR nicht gebaut.

Das und viel mehr erzählt der gerade 67 gewordene DDR-Rekordnationalspieler und -torschütze anschließend rund 70 Zuhörern im Gespräch mit Gert „Zimmi“ Zimmermann. Joachim Streichs Fußball-Karriere begann in den 1950/60ern in seiner Heimat Wismar. Als Rekordschütze. In einem Spiel gegen Traktor Zurow schoss er beim 20:0 satte 15 Tore! „Da hat sich herauskristallisiert, dass ich mich beim Toreschießen wohl nicht allzu dumm anstelle“, sagt Streich, ohne eine Miene zu verziehen. Dabei war er schon als Steppke alles andere als ein „Musterschüler“: Ausdauer und lange Laufwege waren nicht sein Ding.

Über die Bezirksauswahl Rostock ging er auf eigene Faust nach der 10. Klasse zum Oberligisten Hansa – „mit dem Abschlusszeugnis und ein paar Fußballschuhen“. Weil er nicht – wie damals üblich – delegiert war, durfte ihn Hansa Rostock im Internat auch nicht verpflegen. „Da haben mir Mitbewohner mit Essenmarken ausgeholfen“, sagt Joachim Streich.

Als Torschützenkönig, aber mit einem verschossenen Elfmeter in der 90. Minute am letzten Spieltag gegen Vorwärts Stralsund verabschiedete er sich aus Rostock. Beide Ostseevereine mussten das Oberhaus verlassen. Streich, der eigentlich zum FC Carl Zeiss Jena wechseln wollte, wurde lange nachgesagt, er habe den Elfer mit Absicht verschossen ... Das war 1975.

Der Jenaer Traum war schnell ausgeträumt. „Du bis ab Montag in Magdeburg“, teilte der damalige DFV-Generalsekretär Schneider dem Vollblutstürmer an einem Freitag mit. Die Ablöse bei Hansa: drei Biertulpen. „Ich wollte eigentlich nicht dorthin. Aber dann war Magdeburg eine schöne Zeit“, sagt Joachim Streich. 171 Mal traf er in 237 Punktspielen in zehn Jahren ins Schwarze. Vor allem Begegnungen mit dem BFC Dynamo sind in Erinnerung geblieben. Im FDGB-Pokal sei der DDR-Gewerkschaftsboss Harry Tisch mal in die Kabine gekommen und habe einen BFC-Trainer in der Halbzeit entlassen.

In der DDR-Nationalmannschaft (102 Spiele/55 Tore) war Streich längst eine feste Größe. Unter Trainer Georg Buschner erlebte er 1972 als junger Spund eine Sternstunde: Bei Olympia in München gab es für die DDR Bronze, gemeinsam mit der Sowjetunion nach einem 2:2 im kleinen Finale. „Das war keine Absprache“, beteuert der 67-Jährige. Überhaupt sei bei Länderspielen gegen den Ostblock immer „ein Haufen Hass mit im Spiel“ gewesen. Warum? „Ich weiß es nicht.“ Joachim Streich wird nachdenklich, als Gert Zimmermann nach dem Olympia-Attentat von ‘72 bohrt. „Wir haben das kaum mitgekriegt. Nur Peter Ducke war früh mal auf dem Balkon, hat sich aber gleich wieder ins Bett gelegt.“ Doch die Bilder, als Einsatzkräfte in Kampfuniform und mit Maschinengewehr im olympischen Dorf standen, haben sich eingeprägt. Dass die DDR im Turnierverlauf sogar die bundesdeutsche Olympiaauswahl, unter anderem mit Uli Hoeneß, mit 3:2 besiegte, geriet fast zur Nebensache.

Das zweite Spiel gegen die BRD bei der WM 1974 in Hamburg verpasste Streich. Weil er nach dem 1:1-Remis gegen Chile in der Vorrunde seinen Heuschnupfen unterdrückte und „Mist“ spielte, „opferte“ ihn Trainer Buschner zugunsten des Siegtorschützen Jürgen Sparwasser. Für den 6. WM-Platz gab es eine Prämie in D-Mark. „Nach dem Urlaub sollten wir das Westgeld aber wieder abgeben und in Forum-Schecks umwandeln“, sagt Streich lachend. „Aber die meisten von uns hatten ihr Geld schon ausgegeben.“

Es wird ein langer Abend auf Schloss Schönfeld. Weil der heutige Rentner Streich über einen schier unerschöpflichen Anekdotenschatz verfügt. Er legte sich mit den Medien an, wurde gegen seinen Willen „über Nacht“ Trainer beim 1. FC Magdeburg und dabei sogar fast noch DDR-Meister, war im Sommer 1990 erster Ost-Coach in der Bundesliga. „Braunschweig – das war die Hölle“, blickt er zurück. Im Vergleich zum Magdeburger Club seien dort „Straßenfußballer“ im Team gewesen, die sich statt Training lieber um ihre Auto- oder Spielhallengeschäfte kümmerten. „Ich war das schwächste Glied“, so Streich. Im Nachgang habe er erfahren, dass die „Eintracht“-Mannschaft im Derby gegen Hannover absichtlich gegen den Trainer gespielt und 0:3 verloren hatte. „Ich hatte keine Chance.“

Seine letzte Fußball-Station war der damalige Zweitligist FSV Zwickau. Der stand 1996/97 kurz vor dem Abstieg, doch Streich rettete den Verein mit vier Siegen aus den letzten vier Spielen. Und doch löste Joachim Streich den Vertrag nach einem halben Jahr wieder auf. „Ich wollte wieder mein Leben führen“, sagt er mit Verweis auf Frau und Tochter, die in Magdeburg geblieben waren. Marita war und ist immer sein fester Halt geblieben. „Zu heiraten, war meine beste Entscheidung. Ich hatte als Sportler immer jemanden, auf den ich mich verlassen konnte“, sagt der Fischkopp, der kein Plattdeutsch kann und trotzdem alles andere als spröde wirkt.