Merken

Der Ersatz-Monarch

Vielen gilt Richard von Weizsäcker als der bedeutendste Bundespräsident, den die Republik je hatte – ein Nachruf.

Teilen
Folgen
NEU!
© dpa

Von Peter Heimann

Die DDR-Grenzer staunten überrascht, wen sie da mit ihren Feldstechern auf sich zukommen sahen. Es war der Tag nach dem Mauerfall im Revolutionsherbst 1989. Über den Potsdamer Platz, damals noch so eine Art Steppe mitten in Berlin, lief Richard von Weizsäcker Richtung Osten – zu Fuß und ohne die für einen Bundespräsidenten übliche große Begleitung. Ein Grenztruppen-Offizier ging auf ihn zu, salutierte vorschriftsmäßig: „Herr Bundespräsident, ich melde: keine besonderen Vorkommnisse.“ Der ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. „Wir begrüßten uns, als wäre unsere Begegnung das Normalste der Welt“, erinnerte er sich später an das skurrile Treffen.

1983: Als Regierender Bürgermeister von Berlin trifft von Weizsäcker DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker.
1983: Als Regierender Bürgermeister von Berlin trifft von Weizsäcker DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker. © dpa
Sprinten für das Sportabzeichen: Noch mit 73 Jahren lief von Weizsäcker die 100 Meter in 18,6 Sekunden.
Sprinten für das Sportabzeichen: Noch mit 73 Jahren lief von Weizsäcker die 100 Meter in 18,6 Sekunden. © picture alliance / dpa
2005 besuchten von Weizsäcker und seine Frau Marianne den Weihgottesdienst in der Dresdner Frauenkirche.
2005 besuchten von Weizsäcker und seine Frau Marianne den Weihgottesdienst in der Dresdner Frauenkirche. © picture-alliance/ dpa
Angela Merkel, damals Vize-Regierungssprecherin, und Weizsäcker 1990 auf der Pferderennbahn in Berlin.
Angela Merkel, damals Vize-Regierungssprecherin, und Weizsäcker 1990 auf der Pferderennbahn in Berlin. © dpa
Ernst von Weizsäcker auf der Anklagebank des Kriegsverbrecherprozesses. An seiner Seite sein Sohn Richard.
Ernst von Weizsäcker auf der Anklagebank des Kriegsverbrecherprozesses. An seiner Seite sein Sohn Richard. © Quelle unbekannt

Von Weizsäcker war als Bundespräsident von 1984 bis 1994 eine Art republikanischer Monarch, für viele Menschen so etwas wie ein Ersatzkönig. Schon während der Teilung erwarb er sich beiderseits der Elbe hohes Ansehen. Er kannte die Lebensverhältnisse in der DDR aus eigener Anschauung. Als Ratsmitglied der Evangelischen Kirche, als Präsident des Kirchentages und als Regierender Bürgermeister in West-Berlin knüpfte von Weizsäcker viele Kontakte in den Osten. Die bei privaten wie dienstlichen Besuchen gewonnenen Informationen über das Leben im SED-Staat hätten, wie er später bekundete, dazu geführt, die Deutschland- und Ostpolitik zum Schwerpunkt seiner Arbeit werden zu lassen. Im Bonner Kanzleramt sorgte es für einen ziemlichen Aufruhr, als von Weizsäcker im September 1983 dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Ost-Berlin einen Besuch abstattete – als erster West-Berliner Regierender.

Von Weizsäcker wollte die deutsche Teilung nie als dauerhaft akzeptieren. Er glaubte fest daran, dass sie keinen dauerhaften Bestand haben würde. „Die Mauer in Berlin ist eine Realität; aber realistisch ist sie nicht, denn sie ist nicht vernünftig, nicht human. Deshalb wird sie in der geschichtlichen Perspektive keinen Bestand haben“, sagte er als Bundespräsident 1986.

Zu seiner Freude über die errungene Freiheit der Landsleute drei Jahre später gesellte sich aber rasch eine gewisse Besorgnis. „Zusammenwachsen, nicht zusammenwuchern“, lautete seine Forderung für den deutschen Einheitsprozess. Schon früh wies von Weizsäcker darauf hin, dass die Deutschen nicht nur durch eine harte Währung vereint würden, sondern auch durch eine „Empfindungsunion“. „Sich zu vereinen, heißt teilen lernen“, war seine Botschaft am 3. Oktober 1990.

Von Willy Brandt wird berichtet, dass ihn der Weizsäcker-Vorwurf aufregte, der Osten werde im Zuge der Einheit überrollt. Die Westdeutschen jedenfalls warnte er davor, sich als Sieger der Geschichte aufzuspielen und mit großen Tönen und Reden „loszuballern.“ Dass „Häuptling Silberlocke“, wie der Adlige beinahe liebevoll „im Volk“ genannt wurde, weit vor seinen Vorgängern in Ostdeutschland geschätzt wurde und wird, liegt auch daran, dass er der erste Bundespräsident aller Deutschen war. Aber auch an der in der politischen Elite selten anzutreffenden Gabe, Gesprächspartnern aufmerksam zuzuhören und auch auf dessen Argumente einzugehen. Und das nicht nur bei Staatsbesuchern, sondern auch beim „Mann auf der Straße“.

Anfassen aus der Distanz

Was nicht dem resümierenden Bild von Antje Vollmer über die Ära Weizsäcker widerspricht: „Es war kein Präsident zum Anfassen, sondern zum Anschauen und Anhören – aus der Distanz.“ In Bonn lud Bundespräsident von Weizsäcker mehrmals die Korrespondenten ostdeutscher Medien ein. Bei Tee, Kaffee und Keksen erfuhr man dabei nicht nur Hintergründiges. Das Staatsoberhaupt war auch immer sehr interessiert, was in Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg gemacht und gedacht wurde.

Erst knapp ein Jahr im Amt, erregte der Bundespräsident im Mai 1985 schlagartig und nachhaltig Aufsehen im In- und Ausland. Für immer wird Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Geschichtsbuch verewigt bleiben. Der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung – das Kriegsende sei nicht mehr nur als Niederlage zu verstehen, sondern als Befreiung „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. Flucht und Vertreibung dürften nicht losgelöst von der „Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte“, gesehen werden. Die Gedanken waren zwar damals nicht ganz neu. Dass sie jedoch von einem Bundespräsidenten zu einer Zeit vorgetragen wurden, als sein eigenes konservatives Lager zum Teil noch weit von derlei Erkenntnis entfernt zu sein schien, gab ihnen eine andere Dimension. An manchen Stellen erhielt Weizsäcker von der Opposition mehr Beifall als aus den eigenen Reihen.

Die Rede des damals 65-jährigen Weizsäckers ist auch Ergebnis der Auseinandersetzung mit seinen eigenen Kriegserlebnissen. Dabei war ihm selbst wenig vorzuwerfen. Er stand dem Widerstand nahe. Anders sein Vater Ernst. Die Amerikaner sahen in dem Außen-Staatssekretär unter den Nazis einen Schreibtischtäter. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen unterstützt Richard als Jurastudent die Verteidiger des Vaters. Der Familie Weizsäcker ging es vor allem darum, die Deutungshoheit über das Wirken des Vaters zu behalten.

In dieser Auseinandersetzung zeigte Weizsäcker – anders als der überwiegende Teil der Deutschen – schon wenige Jahre nach dem Krieg ein hohes Maß an Selbstkritik. Er war beim Einmarsch der Wehrmacht in Polen dabei, gleich am zweiten Kriegstag fiel sein Bruder Heinrich. Die Aussöhnung mit Polen machte er nach dem Krieg zu seinem Anliegen. Konsequenterweise hegte er Sympathien für die Ost-Politik Willy Brandts.

Von Weizsäcker, obwohl über die CDU politische Karriere machend, war nie „Parteisoldat“. Auch deshalb fiel ihm das Überparteiliche im Amt nicht schwer: Als er in der Asyldebatte Flüchtlingsheime besuchte, während andere Politiker von „Asylantenflut“ sprachen, als er sich zu ausländerfeindlichen Gewaltakten zu Wort meldete, als andere von „Beileidstourismus“ redeten, als er RAF-Terroristen begnadigte, als er Auswüchse des Parteienstaates mit dem Wort von der „Machtversessenheit“ attackierte. Als Alt-Bundespräsident war er so etwas wie ein öffentlicher Privatmann. Er schrieb Bücher, gab Interviews, hielt Vorträge, blieb weltweit ein gefragter Mann. Richard von Weizsäcker war bis zu seinem Tod eine politische Autorität weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. (mit dpa)