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Der Dezernent aus dem Wohnwagen

Gerhard Rose blickt auf fast 20 erfolgreiche Jahre in der Verwaltung zurück. Doch anfangs war er unerwünscht – und wohnungslos.

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© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Landkreis. Der Sommer 1997: Am Waldbad in Oberau parkt über Wochen ein Wohnwagen. Sein Besitzer, Gerhard Rose, Mitte 40, ist kein Tourist, auch wenn er aus Hessen kommt und sich in der Gegend noch nicht so gut auskennt. Rose ist heimatlos, wohnungslos – und der brandneue Sozialdezernent des Kreises Meißen.

Ein Dienstag 19,5 Jahre später. Gerhard Rose sitzt in seinem Wohnzimmer in Weinböhla, umgeben von hohen Bücherregalen voller Belletristik, Biografien, einer Reihe von gebundenen Werken der Nobelpreisträger, die er von seinem Vater geerbt hat. Mittlerweile ist er 65 und brandneuer Rentner. Vor ziemlich genau 17 Jahren ist er mit seiner Frau Loni in dieses Haus gezogen. Rose ist angekommen.

„Seitdem bin ich Weinböhlaer“, sagt Rose und fügt schnell hinzu: „Obwohl die Weinböhlaer ja immer sagen, das kann man gar nicht werden, da muss man reingeboren sein.“ Aber wahrscheinlich sei das überall so, dass man eben Fremder bleibe.

Gerhard Rose wirkt nicht, als ob ihm das zu schaffen mache. Und sein Zuhause wirkt nicht, als würde er sich hier wirklich fremd fühlen: In den Regalen stehen kleine Engelsfiguren aus dem Erzgebirge, Räuchermännchen, Fotos der vier Enkel, die alle in Hessen wohnen, wo auch Roses zwei Kinder leben. Ein hölzernes Puppenhaus zeugt davon, dass die Enkel, heute zwischen acht und 17 Jahre alt, gerne beim Opa in Sachsen gespielt haben. Knapp 20 Jahre in Kreis Meißen, ein Drittel Leben, das nur durch einen Zufall entstanden ist.

Als Gerhard Roses Bruder 1996 als Arzt von Berlin nach Dresden wechselte, besuchten Rose und seine Frau ihn für ein paar Tage. Rose war damals Geschäftsführer des Behindertenwerks Main-Kinzig, im größten Landkreis Hessens. 20 Jahre seines Lebens hatte er da schon dem Wohl von behinderten Menschen gewidmet. Hatte ein Haus, das er selbst entworfen und alters- sowie behindertengerecht ausgebaut hatte – mit verbreiterten Türen und Wänden, die man bei Bedarf leicht wieder entfernen konnte. „Man weiß doch nie“, sagt Rose. „Du hast morgen einen Unfall und dann sitzt du im Rollstuhl.“

Einen Unfall hatte er glücklicherweise nicht, aber eine verhängnisvolle Begegnung – mit der Stadt Meißen. Die besuchte das Ehepaar Rose 1996 einen Tag lang. „Da habe ich zu meiner Frau gesagt: Das könnte einmal schön werden, hier zu leben. Und sie hat leichtsinnigerweise geantwortet: Na, dann bewirb dich doch.“

Damals wurde ein Sozialdezernent gesucht. Rose bewarb sich, musste drei Bewerbungsgespräche durchstehen, das letzte im Kreistag, dann wurde er eingestellt. Seine Freunde konnten damals nicht verstehen, warum er diesen Schritt ging, warum er noch einmal eine Probezeit über sich ergehen lassen würde, um in einer völlig fremden Stadt neu anzufangen. Doch Rose war an einem Punkt in seinem Leben angekommen, an dem die Kinder aus dem Haus waren und deshalb die Zeit für etwas ganz Neues gekommen war.

Das Neue beginnt mit der Wohnungslosigkeit. Als der Campingplatz in Oberau schließt, ist die Wohnung, die Rose in Meißen in Aussicht hat, noch nicht fertig. So muss er erst in ein Dozentenheim ziehen, dann in ein Studentenwohnheim in Bohnitzsch, bis es mit der Wohnung klappt. Seine Frau kommt ein Jahr später nach.

Und auch beruflich ist der Anfang nicht leicht. Der Landrat sei damals gegen ihn gewesen, sagt Rose heute, das habe er später sogar einmal zugegeben. Der neue Dezernent hat sich um Jugendamt, Sozialamt, Schulamt, Veterinäramt, Gesundheitsamt zu kümmern. „Mit diesen Ämtern sollte ich angeblich nie Probleme haben, es kam aber ganz anders.“ Erst hat Rose mit einer Wasserverunreinigung in Coswig zu tun – aber keine Ahnung von Trinkwasser – dann kommt noch der Rinderwahnsinn.

Und die Bürokratie, die abzubauen er sich größte Mühe gibt, wird zu seiner Überraschung über die Jahre immer mehr, auch als er nach der Kreisreform 2008 das Dezernat Arbeit und Bildung übernimmt. „Ich habe manchmal das Gefühl, es gibt in bestimmten Häusern dieses Landes Menschen, die Tag und Nacht darüber nachdenken, wie sie Hürden aufbauen können, um den anderen das Leben schwerer zu machen“, sagt Rose.

Genau das Gegenteil war immer sein Antrieb bei der Arbeit: Er wollte Hürden abbauen, egal, ob es um bürokratische wie bei den Schulbudgets ging, oder um tatsächliche wie nicht abgesenkte Bordsteine, die Rollstuhlfahrern und Menschen mit Rollator Probleme bereiten. „Das ist eine Art von Gedankenlosigkeit, die heute nicht mehr sein muss“, sagt Rose, der sich ärgert, nicht selbst den Rollator erfunden zu haben. „Wenn man 20 Jahre lang für und mit behinderten Menschen gearbeitet hat, dann bleibt das in den Kleidern hängen.“

Deshalb hat er schon 1998 die Meißner Sozialprojekt gGmbH (Meisop) gegründet und sich darum gekümmert, dass Arbeitsprojekte für Menschen mit Behinderung geschaffen werden. So wurden die Schulen ab 1998 von Behinderten gereinigt.

Für diese gute Tat gab es für Rose eine Rüge vom sächsischen Rechnungshof: Er hatte das ohne vorherige Ausschreibung gemacht. „Aber das habe ich ausgehalten“, sagt Rose mit der Gelassenheit eines Ruheständlers. „Ich bin nicht verhaftet und nicht bestraft worden.“ Er schmunzelt. Man könne eben sehen, so sein Fazit dazu: Auch wenn man meint, etwas Gutes zu tun, kann man straffällig werden.

Gutes tun will Rose auch im Ruhestand. Das mit den zu hohen Bordsteinkanten in Weinböhla will er zum Beispiel angehen. „Die Verwaltung hat mich erhört, sie wollen sich das von mir jetzt mal zeigen lassen“, sagt Rose. Seit 1. Oktober ist er Rentner, genau einen Monat später saß er in der Mitgliederversammlung des Kinderschutzbundes in Radebeul. „Da bin ich eigentlich nicht hingegangen mit der Erwartung, als 1. Vorsitzender wieder rauszukommen – aber es ist dann so gekommen.“

Dass ihm im Ruhestand langweilig werden könnte, ist das Letzte, was er fürchtet. „Ich habe noch was zu lesen“, sagt Rose und schaut an den Bücherregalen hinauf, „und ich habe noch Reisepläne“. Frankreich, Italien und Spanien stehen als nächste Ziele auf der Agenda.

Die erste Reise – mit seiner Frau, ebenfalls Pensionärin, und dem jüngsten Enkel nach Südtirol – machte Rose gleich zu Beginn der Rente. „An das Gefühl, einfach losfahren zu können, ohne jemanden zu fragen, muss ich mich erst noch gewöhnen“, sagt er. An sein Reisegefährt hat er sich aber bereits gewöhnt: Es ist zwar nicht mehr derselbe von damals – aber noch immer ein Wohnwagen wie der, in dem vor fast 20 Jahren alles begann.