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Der Appetit im Kopf

Immer mehr Dresdner sind übergewichtig. Manchmal hilft nur noch eine OP.

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© René Meinig

Von Sandro Rahrisch

Ein Cola-Junkie ist Nico Brauns nie gewesen. Auch aus Schokolade und Burgern macht sich der 22-Jährige nichts. Die Klamottenläden verlässt er trotzdem mit einem traurigen Gesicht. Denn selbst in die größten Shirts passt er nicht rein. 138 Kilogramm wiegt Nico Brauns, als er sich wegen Fettleibigkeit (Adipositas) in ärztliche Behandlung begibt. Im Neustädter Krankenhaus ist er einer von vielen. Dort sind seit Januar schon über 200 Patienten mit krankhaftem Übergewicht aufgenommen worden. Pro Woche stellen sich sieben neue vor. Inzwischen warten sie ein halbes Jahr bis zur ersten Therapiesitzung.

Vor zwei Jahren hat Jens Zschocke noch 185 Kilogramm gewogen (l.). Ihm half nur eine Magenverkleinerung, um abzunehmen.
Vor zwei Jahren hat Jens Zschocke noch 185 Kilogramm gewogen (l.). Ihm half nur eine Magenverkleinerung, um abzunehmen. © René Meinig
Vor zwei Jahren hat Jens Zschocke noch 185 Kilogramm gewogen (l.). Ihm half nur eine Magenverkleinerung, um abzunehmen.
Vor zwei Jahren hat Jens Zschocke noch 185 Kilogramm gewogen (l.). Ihm half nur eine Magenverkleinerung, um abzunehmen.

Nico Brauns hat weniger ein Problem damit, was er sich auf den Teller packt, sondern wie viel. „Der Hunger war immer da, im Kopf“, sagt er. Das Sättigungsgefühl habe ihm gefehlt. „Ich habe mir doppelte Portionen genommen und nach Lust und Laune gegessen.“ Als Kind ist er dürr, bekommt gesagt, er solle mehr essen. „Das ist im Kopf geblieben.“

Beim Treppensteigen schnauft Brauns. Ansonsten bescheinigen ihm die Ärzte beste Gesundheit. Organe und Blutwerte sind völlig in Ordnung – von Diabetes keine Anzeichen. Auch die Freunde machen ihm keinen Druck, abzunehmen. „Die mögen mich, wie ich bin“, sagt er. Allerdings fühlt sich der Dresdner selbst zunehmend unwohl in seinem Körper. „Mir ist klar geworden, dass ich erwachsen werde, abnehmen will und anziehen, was ich will.“ Auslöser ist die Entscheidung, den Schulabschluss nachzuholen. „Ich wollte noch einmal von vorn beginnen, einfach alles über den Haufen werfen.“ Inzwischen steht er kurz vor dem Abitur. Und Nico Brauns ist bereits 20 Kilogramm leichter.

Zur ambulanten Therapie gehört nicht nur die ärztliche Betreuung, sondern auch eine Ernährungs- und Bewegungsberatung. Außerdem versucht das fachübergreifende Team des Neustädter Krankenhauses, den Ursachen für das Übergewicht auf die Spur zu kommen. „Wir suchen Hemmnisse, die einer Gewichtsabnahme entgegenstehen, erarbeiten gemeinsam Motivationsstrategien und suchen Arten der Bewegung, die den Patienten liegen“, sagt Chefarzt Tobias Lohmann. Am Anfang stehen Einzelgespräche, später werden Gruppen mit rund acht Teilnehmern gebildet. Sie kochen zum Beispiel zusammen. Ein sicheres Heilmittel ist das nicht. „Es wird ganz schwierig, das Gewicht auf Dauer zu halten“, so Lohmann. Das Programm, das im Januar in Zusammenarbeit mit der AOK startete, ist deshalb auf mehrere Jahre ausgelegt.

Der Chefarzt warnt: Rund 200 000 Sachsen leiden unter krankhaftem Übergewicht – Tendenz steigend. Fettreiche Nahrung, Bewegungsmangel, genetische Veranlagungen sind die häufigsten Ursachen. Auch immer mehr Kinder sind betroffen. Laut einer Studie der Stadt waren 2011 etwa 14 Prozent der Sechstklässler übergewichtig. Vor allem im Alter werden die Folgen spürbar: Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Schlafapnoe und Gelenkarthrose gehören zu den häufigsten. Oft reichten konservative Therapien, wie sie Nico Brauns macht, bei extrem hohem Gewicht nicht mehr aus. Jens Zschocke wiegt 185 Kilogramm, als er einen Herzinfarkt erleidet und drei Bypässe bekommt. Seine Geschichte beginnt mit der Wende: Seinen Job bei der LPG verliert er. „Aus Frust und Langeweile habe ich angefangen, rumzufressen“, sagt der 49-Jährige. 100 Kilo legt er zu. „Nach meinem Infarkt hatte ich große Angst vor einem neuen.“ Zunächst besucht er eine Selbsthilfegruppe, die Mollybetiker. Er schafft es, fast 30 Kilo abzunehmen. Dann raten ihm die Ärzte zu einer Operation. Zschocke werden etwa 70 Prozent seines Magens entfernt.

Übrig bleibt ein Schlauch, in den weniger Essen passt. „Früher habe ich zum Frühstück drei Brötchen gegessen. Jetzt schaffe ich geradeso eins.“ Zschocke wiegt jetzt 116 Kilogramm. Beim sogenannten Schlauchmagen sei es bislang unklar, warum das Sättigungsgefühl schneller eintritt. „Aber es ist so“, sagt Tobias Lohmann. Seit fünf Jahren ist das Neustädter Krankenhaus eines von drei zertifizierten, chirurgischen Adipositaszentren in Sachsen. Knapp 200 Eingriffe führte das Neustädter Krankenhaus 2015 durch. Dieses Jahr dürften es etwas weniger werden, schätzt Chirurgin Miriam Dressler. Auch, weil das konservative Programm mit der AOK gestartet sei. Die Operation ist nicht risikolos. Nachblutungen sind zum Beispiel möglich. Nach dem Eingriff müssen Patienten lebenslang Spurenelemente einnehmen. Und der Magen dehnt sich im Laufe der Zeit wieder. Deshalb müssen die Erkrankten an eine Ernährungs- und Bewegungstherapie herangeführt werden, um nicht wieder an derselben Stelle zu landen wie vor dem Eingriff. „Die OP ist ein Hilfsmittel“, sagt Dressler. Die Krankenkasse zahlt nach Einzelfallprüfung, wenn Ärzte den Eingriff empfehlen. Kinder werden in der Regel nicht am Magen operiert.

Neuer OP-Saal für Übergewichtige

Nico Brauns und Jens Zschocke bereuen ihre Entscheidung nicht, ihr Übergewicht von Ärzten behandelt haben zu lassen. „Ich bin stolz“, sagt Zschocke, dessen 6XL großes Shirt ihn noch an die Tage erinnert, an denen er nur per Fahrstuhl das nächste Stockwerk erreichen konnte. Brauns muss erst einmal neu einkaufen gehen, weil die Hosen rutschen.

Das Neustädter Krankenhaus baut sein Adipositaszentrum weiter aus. Derzeit entsteht ein eingeschossiger Neubau, in dem auch ein OP-Saal für fettleibige Patienten errichtet wird. Im angrenzenden Haus D entsteht eine zentrale Adipositasstation mit spezieller Statik. Bislang müssen die Patienten auf verschiedenen Stationen betreut werden. Ende August hat der Innenausbau begonnen.