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DDR-Heimkinder gesucht

Malermeister Mike Nelde hatte eine schwere Kindheit. Jetzt will er Menschen mit ähnlichem Schicksal treffen.

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© Nikolai Schmidt

Von Ingo Kramer

Es gibt Tage, da kommt bei Mike Nelde alles wieder hoch. Die ganzen elf Jahre, die er in seiner Kindheit und Jugend im Heim verbracht hat. Die Situationen, in denen er geschlagen wurde oder im Keller eingesperrt. Der Gedanke an die „Erzieher“ von damals, die in seinen Augen keine Menschen waren, sondern Gefahren, gottähnliche Wesen mit Allmacht. All seine verzweifelten Fluchtversuche. „Ich bin tausendmal abgehauen, aber immer wieder von der Polizei eingefangen worden“, sagt der 42-Jährige, der heute als Malermeister Farbenfalter und mit seinen riesigen Seifenblasen in der ganzen Stadt bekannt ist.

Und der irgendwie mit seiner Vergangenheit klarkommen muss. „Verdrängen hat keinen Sinn“, sagt er. Also redet er offen darüber. Von Freunden und Bekannten erhält er durchaus Empathie. „Aber so richtig begreifen können das wahrscheinlich nur Menschen, die es selbst erlebt haben“, sagt Mike Nelde. Deshalb hat er sich auf die Suche gemacht. Auf die Suche nach Menschen, die zwischen Mauerbau und Mauerfall, zwischen 1961 und 1989, ihre Kindheit oder Teile davon im Heim verbracht haben. Doch diese Suche ist schwer: „Viele sind auf die schiefe Bahn geraten, sitzen im Knast oder sind sogar schon tot.“ Andere trauen sich nicht, über ihr Schicksal zu sprechen. Oder Mike Nelde findet sie nicht, weil sie seine Kanäle – Sächsische Zeitung, MDR, Facebook – überhaupt nicht nutzen.

Über diese drei Medien hat er schon einmal einen Aufruf gestartet, um eine Gruppe für Ex-Heimkinder zu gründen, eine Gruppe, in der alle viel Leid erfahren mussten und sich nun bei der Bewältigung unterstützen können. Doch es haben sich nur vier Menschen gemeldet, keiner davon aus der Region. „Die wohnen alle weit weg und haben auch gar kein Geld, um für ein Treffen irgendwohin zu fahren“, sagt er. Über Umwege hat er aber immerhin seine beiden jüngeren Brüder gefunden. Viel unterhalten kann er sich allerdings auch mit ihnen nicht: Beide sind geistig behindert.

Jetzt versucht der Malermeister einen ganz neuen Weg: „Ich würde gern ein Buch veröffentlichen, in dem Heimkinder von damals ihre Geschichten erzählen dürfen.“ Beide Facetten sollen zu Wort kommen: das Erlebte aus der Kindheit und die Bewältigung in der heutigen Zeit. „Wenn wir zehn Leute finden würden, die mitmachen, wäre das toll“, sagt er.

Auch Menschen, die damals nicht im Heim waren, aber aus anderen Gründen in ihrer Kindheit Schlimmes durchmachen mussten, können sich bei ihm melden. Nicht gefragt hingegen sind Nachwende-Heimkinder. „Nach der Wende“, sagt Mike Nelde, „hat sich die Situation in den Heimen zum Glück verändert.“ Seither werde keiner mehr im Keller eingesperrt. Aber diejenigen, die das noch erlebt haben, möchte er kennenlernen – für das Buch und natürlich, um sich gegenseitig bei der Bewältigung zu helfen.

Zwei Mitstreiterinnen hat er schon gefunden. Die eine heißt Daniela Kozubek, war nach der Wende zunächst Erzieherin im Görlitzer Kinderheim. Heute arbeitet sie in Oberhausen mit Kindern zusammen. Sie will ein Kapitel zu dem Buch beisteuern – aus dem Blick einer Erzieherin, die erklärt, warum es damals Schläge und Zwangsadoptionen gab, warum Kinder eingesperrt wurden. Die andere ist eine Masterstudentin. Mike Nelde und Daniela Kozubek wollen einen Fragebogen entwickeln, damit die anderen interviewen, und anschließend die Mitschriften der Masterstudentin geben. Sie soll als eine Art „Ghostwriterin“ die Geschichten aufschreiben. Zehn Geschichten, jede vielleicht zehn Seiten lang, also 100 Seiten insgesamt, das fände Mike Nelde schön. Wer anonym erzählen will, bleibt anonym. Und wer das nicht will, kann auch mit seinem Namen und seinem Foto Eingang in das Buch finden. Mike Nelde selbst hat sich für Letzteres entschieden: „Ich stehe zu meiner Geschichte, kann darüber offen reden.“

Doch wenn das bei anderen nicht so ist, hat er volles Verständnis. Einen Zeitplan hat er sich für das Buch nicht gesetzt. „Ich hoffe einfach, dass sich jetzt ein paar mehr Leute melden“, sagt er. Danach kann es schnell gehen – oder fünf Jahre dauern. Zeitdruck will er jedenfalls nicht aufbauen. Auch Betreuer, die ehemalige Heimkinder kennen, dürfen sich melden. Wo das Heim war, spielt auch keine Rolle. Bei Mike Nelde waren es sogar drei Einrichtungen: ein Vorschulheim in Leipzig, ein Heim in Zschepplin bei Leipzig und schließlich eines in Görlitz. „Zschepplin war das Schlimmste der drei“, sagt er. Allerdings hat er ausgerechnet dort die meiste Zeit zugebracht.

Kontakt unter Telefon 0171 9085413, per E-Mail unter klecks36(at)googlemail.com oder über die Facebook-Seite „Heimkind“