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Das Wunder von Niesky

Seit gut zwei Jahren leitet Thomas Steiner den Waggonbau in der Stadt. In kurzer Zeit hat er Erstaunliches geschafft – aber wie?

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© Wolfgang Wittchen

Von Tilo Berger

Verabredet war 8 Uhr. Thomas Steiner ist schon fünf Minuten vorher da – sein Verständnis von Pünktlichkeit. Vorsorglich hat er zwei Regenschirme mitgebracht. Es nieselt. Jeden Morgen um diese Zeit beginnt der Geschäftsführer der WBN Waggonbau Niesky GmbH seinen Rundgang durch den Betrieb, wenn er sich nicht gerade in China, in Frankreich oder sonst wo auf der Welt bei Geschäftspartnern aufhält. „Ich will mir einfach einen Überblick verschaffen, wie es läuft in den Hallen.“ Dort wissen sie, dass der Chef jeden Tag reinschaut. Wie oft da „Guten Morgen“ hin und her geht, hat noch niemand gezählt.

Seit gut zwei Jahren führt Thomas Steiner die Geschäfte im größten Nieskyer Industriebetrieb. Er stammt aus dem Siegerland, einer lieblichen Landschaft im südlichen Westfalen, studierte Maschinenbau und Wirtschaftswissenschaften, schaffte zwei Doktortitel und arbeitete für fast alle Schienenfahrzeughersteller mit Rang und Namen: Adtranz, Bombardier, Siemens.

Natürlich kannte er auch den Nieskyer Waggonbaubetrieb, der in den vergangenen Jahren erst zu Bombardier gehörte, in die Insolvenz ging und dann ins Imperium der Deutschen Bahn AG (DB) wechselte. 2014 wollte die DB ihr ungeliebtes Nieskyer Kind wieder loswerden und fand in der Münchener Beteiligungsgesellschaft Quantum einen Käufer. Thomas Steiner arbeitete gerade an einem Projekt in Zürich, als die Bayern anriefen und ihm die Geschäftsführung in Niesky antrugen. „Ich hab nicht lange überlegt“, sagt er. „Niesky war für mich die richtige Aufgabe für das nächste Jahrzehnt. Den einzigen großen Güterwagenhersteller in Deutschland leiten, das ist doch was!“

Als Steiner anfing, waren die Vorbehalte groß – „nach den Jahren der wirtschaftlichen Instabilität im größten Unternehmen der Stadt“, sagt Oberbürgermeisterin Beate Hoffmann. Mittlerweile „bin ich der festen Überzeugung, dass das Engagement von Thomas Steiner für den Waggonbau Niesky von großem persönlichen Einsatz und Ehrlichkeit geprägt ist. Die ersten wirtschaftlichen Erfolge sprechen für sich.“

Der Geschäftsführer kommt ohne Zettel aus, wenn er durch die Hallen geht. Steiner hat alle wichtigen Zahlen und Fakten im Kopf. „Hier“, bleibt er an einem Gleis stehen, „unser Flüsterdrehgestell“. Mit dieser Entwicklung haben die Nieskyer im September auf der Fachmesse Innotrans in Berlin für Aufsehen gesorgt. Ein Drehgestell, das zum Teil aus leichtem Kunststoff statt schwerem Stahl besteht, geräuscharm fährt und Energie spart – das wollten die sachkundigen Besucher sehen. „Da winkt uns ein Auftrag über 2 000 Stück.“

Billiger ist nicht immer besser

150 dieser neuen Drehgestelle hat ein Schweizer Unternehmen schon bestellt. Mit Flüsterdrehgestellen fahren auch 404 Schüttgutwagen, die eine Vermietgesellschaft aus dem Alpenland in Niesky kauft. Die Wagen sollen für ein Unternehmen in Kassel Kali und Salze transportieren. Ihre Trichter lassen sich auch zur Seite schwenken, sodass der Rohstoff beispielsweise auf ein Förderband neben dem Wagen rieseln kann. „Damit kann das Unternehmen Zeit sparen“, erklärt Steiner. Auch osteuropäische Waggonbauer gierten nach diesem Großauftrag, bekommen hat ihn Niesky. „Obwohl wir teurer sind“, sagt der Geschäftsführer. „Aber wir bauen genau den Wagen, den der Kunde braucht.“

Um dieses Fahrzeug passgenau fertigen zu können, fuhren Nieskyer Ingenieure zum Kali- und Salzproduzenten. Sie schauten sich an, wie der Rohstoff in die Waggons und wieder heraus kommt. Danach bauten die Oberlausitzer einen Musterwagen – ohne Auftrag. Die Kasseler waren begeistert, und aus dem Vielleicht-Kunden wurde ein richtiger. „Wir gehen auf mögliche Auftraggeber zu und sagen ihnen, was das Beste für sie wäre – und dass wir das bauen können.“

Wahrscheinlich steckt in genau diesem Satz von Thomas Steiner das Rezept, warum der Waggonbau Niesky seit Monaten einen Auftrag nach dem anderen holt. 250 doppelstöckige Autotransportwagen für ein Logistik-Unternehmen in Bayern. 42 Schüttgutwagen für einen Kunden in Frankreich – mit der Option auf 100 weitere. 55 Schiebewand-Waggons für die Schweizer Bundespost. 40 Wagenkästen, die der Berliner Hersteller Stadler zu Straßenbahnen für Stuttgart komplettiert. Die Schwaben haben darauf bestanden, dass die Wagenkästen aus Niesky kommen. „Da steckt viel Handarbeit drin“, weiß Steiner. „Das können nur die besten Fachleute.“

Vor drei, vier Jahren sahen viele Nieskyer Waggonbauer in dem Werk für sich keine Zukunft mehr und gingen nach Bautzen oder Görlitz, wo der Bombardier-Konzern gerade Leute suchte. Jetzt läuft das Ganze in der Gegenrichtung. Bombardier baut Personal ab, der Waggonbau Niesky stockt auf. 290 Festangestellte und 60 Leiharbeiter sind aktuell hier beschäftigt, berichtet Steiner. Dank der vollen Auftragsbücher wird rund um die Uhr gearbeitet. Als Quantum im Sommer 2014 das Werk übernahm, zählte es noch 250 Beschäftigte.

Immer mal, aber nicht allzu oft lassen sich die Münchener Gesellschafter in Niesky sehen. Sie geben Thomas Steiner viel Freiraum. „Sie sind selten hier, weil die Zahlen stimmen.“ Im Frühjahr dieses Jahres waren die Quantum-Chefs mal da. Um mit den Nieskyern zu feiern: Der erste Wagen des größten Auftrages in der jüngeren Firmengeschichte war fertiggestellt. „Unser Prestige-Projekt“, sagt Thomas Steiner. Die Betreibergesellschaft des Eurotunnels zwischen Frankreich und England kauft für 120 Millionen Euro neue Wagen, auf denen Lkw den Ärmelkanal unterqueren können. Jeder Zug besteht aus 35 Wagen, der Vertrag läuft zunächst über drei komplette Züge. Auch Franzosen, Briten, Tschechen, Rumänen und andere Waggonbauer wollten diesen Auftrag. „Fassen Sie mal auf den Belag“, sagt Steiner. Er fühlt sich an wie extra-grobes Sandpapier. Eine Nieskyer Eigen-Entwicklung, besonders griffig bei Nässe und Schnee. Als Partner für diesen Auftrag holte Steiner den Stahlbau Niesky mit ins Boot, wie er überhaupt auf Zulieferer aus der Region setzt – wenn es passt.

Abschalten auf dem Lande

Die Plattformen für die aus Bayern bestellten Autotransportwagen kommen aus China. Auch Schweißbaugruppen und andere Teile ordern die Nieskyer in dem asiatischen Land. „Dazu haben wir dort drei Werke qualifiziert, in denen zur Qualitätssicherung WBN-Mitarbeiter durchgehend vor Ort sind“, erklärt Steiner. Die Qualität aus China sei gut, und der Preisvorteil sichere Arbeit in der Oberlausitz. „Ohne die chinesischen Partner und deren Zulieferungen könnte der Standort in Niesky nicht weiter ausgebaut werden.“ Dazu gehört auch, dass die Nieskyer im Sommer das ehemalige DB-Instandhaltungswerk Eberswalde bei Berlin übernahmen. Ab 2017 sollen dort 220 Mitarbeiter Fahrzeuge warten und aufmöbeln.

Thomas Steiners Stimme lässt keine Zweifel zu, dass er all das selbst gestalten will. Nach Jahren der Arbeit mal hier, mal da ist er jetzt, mit Anfang Fünfzig, in Niesky beruflich und nahe der Kleinstadt privat sesshaft geworden. In Diehsa, wo der Familienmensch mit seiner Frau wohnt, kann er abschalten. Selbst in einem Dorfe groß geworden, kommt ihm die Ruhe hier gelegen. „Ich geh da abends eine Runde mit dem Hund und fahre innerlich runter. In einer Stadt wie Dresden könnte ich das nicht.“ 2017 will er auch wieder mehr Tennis spielen. „Das macht den Kopf frei und ist gut für die Figur.“