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Das Spiel mit den Lügenkrediten geht weiter

Seine erste Visitenkarte trug Claus Wilsing mit Stolz: „Vice President“ stand darauf. Das klang für den Jura-Absolventen fantastisch, doch bald merkte er: Der Titel bedeutet in der Bankenwelt nicht viel.

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Von Leo Müller

Seine erste Visitenkarte trug Claus Wilsing mit Stolz: „Vice President“ stand darauf. Das klang für den Jura-Absolventen fantastisch, doch bald merkte er: Der Titel bedeutet in der Bankenwelt nicht viel. Seine große Chance sah der Jungbanker, als er 1999 mit erst 33 Jahren für die Landesbank Sachsen (Sachsen-LB) ein Tochterinstitut in Dublin aufbauen durfte. Dort waren die Steuern niedrig und die Regeln lasch. (...) Der smarte Wilsing hatte bald ein schlagkräftiges Team beisammen. Das Refinanzierungsgeschäft mit forderungsbesicherten Wertpapieren wurde ihre Spezialität – komplexe Deals, die schwer zu durchschauen waren. (...)

In dieses Spiel stieg Wilsing groß ein. Aber der Jungbanker musste zunächst zwei Hürden überwinden: Die irische Tochter hatte zu wenig Eigenkapital für die großen Deals. Der Dreh: Der Landesbankvorstand in Leipzig, ausgestattet mit einer Staatsgarantie, gab eine „harte Patronatserklärung“ ab – ein Persilschein. (...) Wilsings zweite Hürde: Die irische Sachsen-LB-Tochter konnte die milliardenschweren Deals nicht über ihre Bücher laufen lassen, weil diese dann in ihrer Bilanz aufgetaucht wären. Der branchenübliche Trick: Bankjuristen gründeten im Februar 2003 die Briefkastenfirma Georges Quay Funding und taten so, als habe diese nichts mit der Sachsen-LB zu tun: Ein Treuhänder hielt die Anteile und schob „gemeinnützige Zwecke“ vor. Mit diesem Bluff wurden die Bilanzregeln umgangen. (...)

Nach diesen Vorbereitungen schritten Wilsing und Kollegen zur Tat. Im März 2004 gründete das Team nach gleichem Muster die Firmen Ormond Quay, Ellis Quay, Merchants Quay und Eden Quay, benannt nach Dubliner Straßen und geführt von Treuhändern – angeblich alles gemeinnützig. Für die guten Zwecke war allerdings kein Geld da, Dividenden gab es ebenfalls nicht, dafür aber Erträge für die Dubliner Sachsen-LB-Tochter. „Wir sind profitabel, die Risikovorsorge ist ausreichend“, sagte ein Sachsen-LB-Sprecher Anfang 2005.

(...) In Dublin indes drehte das Irland-Team das Rad immer schneller. Es musste permanent fällig gestellte Papiere zurücknehmen und sich durch den Verkauf neuer refinanzieren. Im April 2005 gab es erstmals Schwierigkeiten. Experten der Prüfgesellschaft KPMG lieferten einen kritischen Sonderbericht über Georges Quay. Der Verwaltungsrat habe „keinen Gesamtüberblick über die Geschäftsvolumina und die Summe der bestehenden Erstverlustrisiken“. (...)

Banker Wilsing quittierte plötzlich Ende 2005 seinen Dienst in Dublin, gönnte sich ein neues Domizil im Wiesbadener Nobelviertel Nerotal. (...) Er hinterließ ein verhängnisvolles Erbe. Durch die Dublin-Deals stand die Sachsen-LB im Sommer 2007 vor einem Fiasko historischen Ausmaßes. Im August mussten Sparkassen und Landesbanken in einer Notoperation 17,3 Milliarden Euro bereitstellen, um für verbriefte US-Hypothekenkredite geradezustehen, für die es keine Käufer mehr gab. Die Höhe der Liquiditätsspritze stellte alles in den Schatten, was die deutsche Bankenwelt in den vergangenen Jahrzehnten erlebte. (...)

Sachsens Regierung versteckte sich zunächst hinter nebulösen Erklärungen. Der Finanzminister ließ nur durchblicken, dass gewisse Liquiditätsengpässe entstanden waren. Der Mediensprecher der Landesbank vermittelte zudem den Eindruck, dass die Dubliner Firmen völlig unabhängig operierten: „Die Sachsen-LB ist mit diesen Gesellschaften in keiner Weise gesellschaftsrechtlich verbunden.“ Erst im November 2007 wurde klar, dass die Sachsen über 30 Milliarden Euro in teilweise unverkäufliche Anlagen investiert hatten. (...)

Am 12. Dezember eilte Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) zu einer nächtlichen Krisensitzung nach Frankfurt am Main. In einem Konferenzraum der Bankenaufsicht Bafin wurde er vom Präsidenten Jochen Sanio empfangen. Axel Weber, der Chef der Bundesbank, saß ebenfalls am Tisch, zusammen mit Spitzenvertretern der Girozentralen und Landesbanken. Sie fürchteten, ihre Sicherungsreserve werde auf einen Schlag verbraten. Es waren „Stunden und Tage, die ich keinem wünsche“, erzählte Milbradt. (...) Es war die erste Rettungsaktion der staatlichen Bankenwelt: der Zusammenbruch einer Landesbank, die sich mit Asset-backed Securities (ABS), verbrieften Forderungen auf US-Hypotheken, gewaltig verzockt hatte. (...)

Milbradts neuer Finanzminister Stanislaw Tillich, ein fleißiger Parteisoldat der sächsischen CDU, erklärte, wie es dazu kam. Als ruchbar wurde, wie stark die Landesbank von der Kreditkrise erfasst wurde, hoffte er wie der Rest der Regierung zunächst auf eine Beruhigung am Finanzmarkt. Doch der „Markt hat sich nicht verbessert, sondern verschlechtert“, gestand Tillich. (...) Die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) sagte schließlich zu, das marode Institut zum Jahresende 2007 zu übernehmen.

(...) Die Kostenbilanz war für den Freistaat Sachsen verheerend: Das Bundesland steht mit einer Ausfallbürgschaft in Höhe von 2,75 Milliarden Euro für die erwarteten Verluste der Dubliner Verbriefungsgeschäfte gerade. Es musste die Sachsen-LB zu einem Preis von 328 Millionen Euro an die LBBW verkaufen und verlor dabei seinen Anteil am Eigenkapital der Bank. (...)

Nach der Rettungsaktion veröffentlichte die Staatsregierung erstmals die wahren Zahlen über das geschätzte Gesamtrisiko bei der Sachsen-LB: 43 Milliarden Euro. Damit hatte die kleine ostdeutsche Landesbank riskante Verbriefungsgeschäfte in einem weitaus höheren Umfang betrieben als zum Beispiel die Deutsche Bank oder die weltgrößte Vermögensverwalterbank UBS in der Schweiz. (...)

Milbradt will von den Milliarden-Spekulationen kaum etwas mitbekommen haben. „Vom Umfang und den Details der Geldanlagen hatte ich keine Kenntnis. Deswegen bin ich mit mir im Reinen“, verteidigte er sich. (...) Das Verantwortungsspiel ging im Ringelreihen: Händler Wilsing verwies auf den Kreditausschuss und den Vorstand. Der Vorstandschef verwies auf den Verwaltungsrat, insbesondere auf den Landesfinanzminister als dessen Mitglied. Und die Regierung verwies auf die Aufsichtsbeamten in Bundesbank und Bafin.

(...) Und die toxischen Milliarden? Der größte Teil der Giftpapiere wurde in eine neue Briefkastenfirma aufgenommen. Die sächsische Regierung erklärte, dass „Institute der Girozentralen und Landesbanken die notwendige Liquidität zur Verfügung stellen, die das Halten der strukturierten Portfolien bis zur Endfälligkeit möglich machen.“ (...) Als Domizil für das Milliardengrab wählte man einen passenden Ort: 1st Floor, 7 Exchange Place, Dublin 1. Dort befinden sich nun in einem Bürokomplex die Bad Banks des Freistaates Sachsen. Wieder „in der regulierungsfreien Zone“, feixte die Zeitung „Irish Times“, wieder halfen verschwiegene Treuhänder. Im Februar 2008 wurde dort die Sealink Funding Limited mit Wertpapieren im Volumen von 15 Milliarden Euro gegründet. Die LBBW stützt diese Bad Bank mit einem Darlehen in Höhe von sechs Milliarden. Und wieder laufen die Geschäfte außerhalb der Bankbilanzen. (...) Besonders pikant ist, dass Banker und Politiker dabei auf die Künste der Treuhänder von Wilmington-Trust setzen. (...) Sie sind spezialisiert auf diskrete Geldgeschäfte für besonders vermögende Kunden und Firmen auf den Kanalinseln, in Luxemburg und Irland oder auf den Cayman-Inseln. Die neue Konstruktion glich der alten: Eigentümer von Sealink sind drei Briefkastenfirmen mit Sitz in Dublin, London und auf Jersey. Die tatsächlichen Eigentümer bleiben ein Treuhändergeheimnis.

Über die Sealink-Ergebnisse informieren die Landesregierungen in Dresden und Stuttgart nur in geheim tagenden Ausschüssen. Obwohl das erste Geschäftsjahr längst beendet war, gab es bis November 2009 noch keine veröffentlichte Bilanz. „Geschäftsgeheimnis“, verteidigte sich Sachsens Regierung. (...) Der Gipfel der Desinformation ist aber, dass Sachsens Finanzpolitiker den Eindruck vermittelten, die Probleme von Sealink seien überschaubar. Für das Gesamtjahr 2009 rechne man bei Sealink mit Ausfällen in Höhe eines „mittleren zweistelligen Millionenbetrags“. Keine gravierenden Verluste demnach. Tatsächlich waren damals schon Milliardenverluste eingetreten, die verkündeten „Ausfälle“ waren nur die unmittelbar auszugleichenden, realisierten Verluste.

Der Trick: Die Vermögensverwalter berechneten den größten Teil des Sealink-Portfolios nach Modellkalkulationen, weil echte Marktpreise nicht verfügbar waren und es immer noch keine Käufer für den verbrieften Kreditschrott gab. Die Marktpreise wurden mit diesen Modellrechnungen faktisch geschätzt. Ein vertraulicher Prüfbericht klärte über die wahre Lage bei der Sealink auf: (...) Bis zum Monatsende am 31. Oktober erhöhten sich die „unrealisierten Marktwertverluste auf fünf Milliarden Euro.“ Weil die Sealink-Papiere als „bis zur Endfälligkeit“ gehaltene Werte bilanziert wurden, mussten die unrealisierten Verluste so lange nicht in der Bilanz als echter Verlust bezeichnet werden, solange die Papiere nicht verkauft werden. (...) Alles sieht also undramatisch aus, so lange die Schrottpapiere im Sealink-Depot bleiben.

Diese Geschäftspraxis ähnelt dem Beispiel eines Autohändlers, der eine riesige Gebrauchtwagenflotte auf Halde stehen hat, die seit dem Kauf bis zu 80 Prozent an Wert verloren hat. In der Buchhaltung und Bilanz, die der Händler seinen Aktionären jeweils zum Jahresende vorlegt, bewertet er die Autos aber nach wie vor zum Ankaufspreis. Damit verschweigt er seine faktische Pleite, aber solange er kein Auto verkauft, bemerkt sein Aktionär nichts davon. Erst beim Verkauf muss er den Verlust bilanzieren, der durch die Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis entsteht. Der Händler erklärt seinem Aktionär, dass er auf bessere Zeiten warte, bis die Preise wieder das alte Niveau erreichen mögen.

Das Spiel geht nur so lange gut, wie sich der Händler aufs Däumchendrehen konzentriert – oder bis sein Aktionär sich die Gebrauchtwagen genauer anschaut und feststellt, dass der Händler weitgehend Schrott auf Halde stehen hat.

Wie lange wird das Spiel im Fall der Sealink laufen? Vermutlich viele Jahre, bis zur Endfälligkeit der meisten Hypothekenpapiere. Die Sachsen und die Baden-Württemberger haben das Problem also nicht gelöst, sondern nur verschoben. (...) Diese Konstruktion ist eine Verdunklungsoperation, aber die Finanzpolitiker finden es in Ordnung: „Der Vorwurf der Verheimlichung entbehrt jeglicher Grundlage.“ (...) Das Spiel mit den Lügenkrediten geht weiter. Der Unterschied: Nicht Banken, sondern Regierungen verstecken jetzt toxische Wertpapiere vor dem Volk. (...)