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Das Schweigen der Hämmer

Rund um St. Marien in Kamenz bleibt es neuerdings von 22 bis 6 Uhr früh still. Was steckt dahinter?

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© René Plaul

Von Ina Förster

Kamenz. Eigentlich ist es gar keine Glocke. Eher eine Schelle. In Glockenform. Wahrscheinlich erst seit etwa 1900 gibt sie ganz oben auf dem Turm von St. Marien mechanisch die Uhrzeit fürs Volk durch. Höher geht‘s hier nicht mehr. Früher diente sie als Feuerglocke, weiß Kirchner Rico Rietzschel. Jedenfalls stammt die Seiger-Schelle aus dem Jahr 1568. Unwahrscheinlich, dass der Türmer damals jede halbe Stunde hochgeklettert ist und den Gong geschlagen hat. Irgendwann musste selbst der Fleißigste schlafen. Es ist also eher anzunehmen, dass die Turmuhr von St. Marien erst nach Einführung des mechanischen Laufwerkes um 1900 halb- und ganzstündig schlug. Stadtarchivar Thomas Binder ist der Sache gerade auf der Spur. So viel zu einer jahrhundertealten Tradition, die derzeit die Gemüter der Kamenzer bewegt.

Rico Rietzschel ist am Freitag mit der SZ nach oben gestiegen. Fürs Foto. Und weil es doch eher selten ist, dass man überhaupt bis dahin gelangt. Dafür hört man sie regelmäßig. Oder besser gesagt – in letzter Zeit nicht mehr ganz so oft. Halbstunden- und Stundenschlag der Schelle wurden abgestellt. Zumindest zwischen 22 Uhr abends und sechs Uhr morgens. Die einen merkten es schnell. Andere überhaupt nicht. Oder erst, als das Thema über das soziale Netzwerk Facebook hochkochte.

Ein Anwohner fragte dort öffentlich: „Seit Hunderten von Jahren läutet unsere Kirche zur halben und vollen Stunde. Ich bin in ihrem Schatten aufgewachsen. Jetzt gibt es Leute, die in die Stadt hochzogen und wegen der Kirche nicht schlafen können! Jedenfalls läutet es nachts nicht mehr “, schreibt User Axel Noack. Daraufhin entbrannte eine heftige Diskussion der Mitleser. Vor allem unter denen, die in der Altstadt wohnen. Von Unterschriftensammlungen war die Rede und dass es so nicht geht. Einfach den Uhrschlag abstellen – wo gibt es denn so etwas? Und erst recht nicht wegen einem Einzelnen, der sich darüber beschwert. Der Ärger war groß. Was steckt dahinter?

Eine Art Testlauf

Die Bedeutung des Geläutes

Die Läuteordnung ist ein öffentlich-rechtliches Ortsgesetz, das vom Regionalkirchenamt Dresden als Aufsichtsbehörde abgesegnet werden muss.

Religiös interpretiert wird der Uhrschlag unter der Vorstellung, dass „unsere Zeit in Gottes Händen“ steht.

Aufgrund von Klagen wegen Lärmbelästigung kann der Uhrschlag bei den neuen elektrischen Uhrwerken in der Nacht abgestellt oder in der Lautstärke gemindert werden. Inzwischen sind aber auch Fälle bekannt, wo in der Gemeinde der Uhrschlag auf allgemeinen Wunsch nachts wieder angestellt wurde (Quelle: Wikipedia)

Das große Geläut um 12 Uhr mittags rief in früheren Zeiten zum Gebet für den Frieden auf.

Das Abendgeläut abends 18 Uhr diente als eine Art Feierabendglocke.

Außerdem gibt es das Geläut zum Gottesdienst, zu Veranstaltungen oder an hohen kirchlichen Feiertagen.

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„Es ist richtig, dass wir seit etwa zwei Wochen die Schelle über einen gewissen nächtlichen Zeitraum abgestellt haben“, sagt Pfarrer Michael Gärtner von der evangelisch-lutherischen Kirchgemeinde. Eine Art Testlauf soll das sein. Vor allem aus technischer Sicht. Die Mechanik musste dafür umprogrammiert werden. Bislang hat das gut funktioniert. Man wird die Ergebnisse am Montag in der Kirchenvorstandssitzung auswerten. Und wohl noch einiges mehr.

Hintergrund für die Entscheidung, die Turmschelle eingeschränkt schlagen zu lassen, war nämlich eine Anwohneranfrage. Eigentlich schon die zweite dieser Art. Bereits im März 2015 gab es einen offiziellen Antrag eines der Kirchennachbarn, den Stundenschlag in der Nacht ganz abzuschaffen. Man wog damals dieses ernst zu nehmende Ansinnen gründlich ab. Und schlug es letztendlich aus. Nun reichte der gleiche Anwohner allerdings eine amtliche Lärmmessung nach. Sein Leid und das der Familie, nachts nicht zur Ruhe zu kommen, scheint ungebrochen.

Nachts zu laut

„Das Ergebnis der amtlichen Messung hat uns gezeigt, dass die Schelle zu laut ist. Deshalb haben wir schnellstmöglich reagiert“, so Michael Gärtner. Die Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm aus dem Bundes-Immissionsschutzgesetz besagt, dass auch einzelne kurzzeitige Geräuschspitzen die Immissionsrichtwerte am Tag um nicht mehr als 30 und in der Nacht um nicht mehr als 20 Dezibel überschreiten dürfen. Selbiges ist in Kamenz zumindest nachts der Fall. „Und jeder hat natürlich das Recht, sich zu äußern, wenn gewisse Gesetzmäßigkeiten nicht eingehalten werden.“

Er würde gern die Emotionalität aus der Sache nehmen. „Wir wollen sachlich befinden und miteinander diskutieren. „Es geht hier überhaupt nicht darum, die Kirchenglocken abzustellen. Diese werden nach wie vor zu festen Zeiten geläutet. Auch nachts, wenn es sein muss, wie Silvester oder am Heiligabend“, so Michael Gärtner. Im Vorstand wird das Für und Wider genau abgewogen. „Aber wir lassen uns von keinem unter Druck setzen. Wer etwas Sachliches zum Thema beizutragen hat, ist zum Dialog eingeladen und kann sich bei mir melden“, so der Pfarrer. Rückmeldungen von den Kamenzern gibt es unterschiedlichster Art. Einige vermissen ihren Stundenschlag so, dass sie ohne ihn nicht mehr in den Schlaf finden. Es ist wie bei allen Dingen – was dem einen seine Eule, ist dem anderen die Nachtigall …

Kontakt Pfarrer M. Gärtner: Telefon 03578 3733871, [email protected]