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Das Rätsel von Guben

In der brandenburgischen Grenzstadt tobt seit Wochen ein politischer Krieg. Die Mehrheit der Wähler hat sich für einen Bürgermeister entschieden, der wegen Korruption verurteilt wurde. Warum?

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© Robert Michael

Von Frank Seibel

Dieses Stück Vergangenheit sieht nach ziemlich großer Zukunft aus: Einige Hundert Meter lang ist die Ziegelfront der einstigen Hutfabrik, für die Guben so berühmt war. „Gubener Tuche, Gubener Hüte – weltbekannt für ihre Güte“. Eineinhalb Jahrhunderte lang galt dieser Werbespruch. Seit 17 Jahren ist die Hutfabrik Geschichte. Beinahe wäre sie abgerissen worden. Doch heute ist sie ein Schmuckstück. Fein saniert, leuchtet der Backstein rot, hier und da moderne Glasfronten, und oben auf dem Dach ragen dicke Abluft-Schächte wie Ausrufezeichen empor: Hier ist’s modern! Das Heimat- und Geschichtsmuseum ist mit einer sehr originellen Ausstellung zur Geschichte der Hut-Industrie hier zu Hause; die Musikschule, die Stadtbibliothek. Und die Stadtverwaltung. Davor ein weiter Platz, der Anschluss zu suchen scheint: an einen Supermarkt, eine Passage, eine Sporthalle oder ein Hallenbad. Aber die Suche geht ins Leere. Erst in einigen Hundert Metern Entfernung ist das eigentliche Stadtzentrum von Guben zu erahnen.

Wenn Klaus-Dieter Hübner sagt „Das hab‘ ich gemacht“, dann meint er natürlich nicht die große leere Fläche, sondern das moderne Bürgerzentrum in der ehemaligen Hutfabrik. Eine scheinbar kindliche Freude zaubert ein verschmitztes Lachen auf das Gesicht des Mannes, dem man nicht ansieht, dass er gerade 65 Jahre alt geworden ist. Und das soll man auch nicht. Am hellen Oberhemd hat er die zwei oberen Knöpfe geöffnet, ebenso die Knöpfe an den Manschetten; am rechten Handgelenkt schaut das rote Lederarmband der Uhr hervor. An warmen Spätsommertagen trägt Klaus-Dieter Hübner gern weiße Turnschuhe zu einer ausgewaschenen Jeans. Raspelkurze graue Haare, ein gestutzter Schnauzbart, eine scharf geschnittene Nase und ein markantes Kinn geben dem Gesicht die Konturen eines Machers. Ein Fußballtrainer vielleicht oder der Manager eines Sportklubs, der ganz oben mitspielen möchte. So wirkt der Mann, der stundenlang Anekdoten erzählen kann, die den einen Satz in den schönsten Farben ausmalen: „Das hab alles ich gemacht.“

Am liebsten würde er den Strauß von Erzählungen, die aus einem Fundus der jüngeren Vergangenheit schöpfen, gerne noch um viele aus der Zukunft ergänzen. Am liebsten würde Klaus-Dieter Hübner gerne wieder täglich durch die Tür des Bürgerzentrums ins Rathaus gehen und an einem großen Schreibtisch auf einem stattlichen Stuhl in einem repräsentativen Büro Platz nehmen. Schließlich ist er ja der Bürgermeister. Oder nicht? So genau weiß man das in Guben derzeit leider nicht, und das droht die kleine Stadt an der Neiße zu zerreißen. Sicher ist: Am 17. Juli 2016 haben genau 4 679 Frauen und Männer aus Guben den FDP-Politiker Klaus-Dieter Hübner in der Stichwahl ihre Stimmen gegeben und nur 3 418 für Kerstin Nedoma, die Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, also des Kommunalparlamentes; dabei haben sich, außer der FDP, sämtliche Fraktionen hinter der Lehrerin versammelt, die der Partei Die Linke angehört und sich seit einem Vierteljahrhundert kommunalpolitisch engagiert. 7 000 Wahlberechtigte, fast jeder zweite, hat sich herausgehalten.

CDU, Linke, SPD und „Wir Gubener Bürger“ haben alles getan, um zu verhindern, dass der Mann, der „das alles gemacht hat“, noch einmal Chef im Rathaus wird, so wie er das von 2002 bis 2011 schon einmal war – bis er suspendiert wurde. Denn Klaus-Dieter Hübner war als Bürgermeister bestechlich, und er hat private Rechnungen aus der Stadtkasse bezahlt. Dafür wurde Hübner im Februar 2015 vom Landgericht Cottbus rechtskräftig zu einer Haftstrafe von eineinhalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Daher hat die Stadtverordnetenversammlung nach Hübners Wahl im Juli ein Hausverbot für den gewählten Bürgermeister beschlossen, und der zuständige Landrat prüft, ob er ihm die Ausübung des Amtes offiziell verbieten kann und soll. Nun kämpft eine Bürgerinitiative für Hübner, demonstriert regelmäßig vorm Rathaus und hat schon 1 600 Unterschriften gesammelt. Dass ein wegen Korruption verurteilter Politiker überhaupt zur Wahl antreten durfte, zählt zu den Merkwürdigkeiten des Wahlgesetzes in Brandenburg und hat die unglückliche Situation überhaupt erst möglich gemacht.

Die Vorwürfe gegen ihn sind unberechtigt, versichert Klaus-Dieter Hübner, der aus einem kleinen Dorf in der Nähe stammt, und setzt ein Lausbubenlächeln auf, als könne er sich allenfalls gelegentlich mal einen Streich erlauben, eine kleine Ordnungswidrigkeit vielleicht, aber doch kein wirkliches Verbrechen. Mit diesem Charme und dieser Botschaft hat Hübner im Sommer Wahlkampf gemacht. Und er hat dabei das Herz von ganz anständigen und redlichen Gubener Bürgern erreicht, die sich vielleicht nicht mal Lausbubenstreiche getrauen würden.

Bärbel und Werner Koschack wohnen in einer kleinen Neubauwohnung im Westen der Stadt, wo es noch viele Neubaublöcke gibt, die daran erinnern, dass Guben mal den Beinamen „Wilhelm-Pieck-Stadt“ trug und eine DDR-typische Industriestadt war. Frau Koschack ist 75 Jahre alt, Herr Koschack 78, und beide freuen sich über den wirklich großen Balkon ihrer modernisierten Plattenwohnung. Den haben sie auch Herrn Hübner zu verdanken, sagen sie. Denn Klaus-Dieter Hübner war in den 1990er-Jahren auch mal Geschäftsführer der Gubener Wohnungsbaugesellschaft. Ein Macher, sagt das Ehepaar Koschack. Allerdings musste er auch dort seinen Posten räumen, weil man ihm nachsagte, er habe Privates und Geschäftliches miteinander vermischt.

Aber Hübner habe als Bürgermeister die Stadt vorangebracht, sagen sie, die ganz hautnah erlebt haben, wie es Guben nach der Wende so durchgeschüttelt hat, dass bald nur noch ein trostloses Etwas mit Tausenden Arbeitslosen übrig war. Bärbel Koschack hat im Chemiefaserwerk gearbeitet und verlor schon 1990 ihre Stelle. Von den einst 6 000 Arbeitsplätzen gibt es in diesem Werk, das unter der berühmten Marke „Trevira“ läuft, heute noch 700. Das ist immer noch der größte Arbeitgeber am Ort. Und Werner Koschack war Handwerker in der ehemaligen Wolltuchfabrik direkt an der Neiße. Die wurde 1996 geschlossen. Heute steht davon nur noch ein Gebäude, ziemlich hoch und imposant. An der Fassade der Giebelseite hängt ein großes Plakat, das davon erzählt, dass dieses Haus saniert und modernisiert werden solle. Und viele Namen und Logos von Einrichtungen der Europäischen Union, der Bundesrepublik, des Landes Brandenburg sowie von privaten Stiftungen stehen auf dem riesigen Transparent. Aber auch diese Zukunft ist längst Vergangenheit. „Herr Hübner wollte ein Wohnhaus mit Lofts daraus machen“, erzählen Bärbel und Werner Koschack, und in diesem Moment blitzt in ihren Augen etwas vom Stolz und von der Hoffnung von damals auf. Aber wer will schon eine Loft-Wohnung in Guben haben, schieben sie hinterher. Die Realität ist nicht so einfach zu ertragen in Guben.

Eines muss man Klaus-Dieter Hübner lassen. Das räumt auch Fred Mahro ein der seit 2011 die Amtsgeschäfte leitet, ohne je offiziell gewählt worden zu sein. „Er hat hier ein neues Wir-Gefühl erzeugt.“ Und dennoch wünscht sich der Christdemokrat, der seit 1994 in der Stadtverwaltung arbeitet, einen Neuanfang. Er ist deshalb nicht einmal selbst angetreten, als nun die Wahl des Bürgermeisters anstand. Denn das „Wir-Gefühl“ hatte damals einen hohen Preis. Von zwei auf 30 Millionen Euro stieg der Schuldenstand der Stadt in Hübners neunjähriger Amtszeit. Heute, nach fünf Jahren Sparkurs, sind die Preise für Schwimmbad, Bibliothek und Musikschule teurer, aber die Stadt hat nur noch halb so viel Schulden, sagt Mahro. Das Auffallendste aber: Es gibt nicht mehr so viele Blumen in der Stadt, und selbst an der Hauptstraße, die das alte Stadtzentrum mit vielen schönen, denkmalgeschützten Häusern bildet, wachsen jetzt Grashalme zwischen Pflastersteinen und an Bürgersteigkanten. Der örtliche Gartenbaubetrieb hat jetzt weniger zu tun in der Stadt. Jahrelang haben die Gärtner alles hübsch gemacht, haben Blumen gepflanzt und gepflegt, und das Neiße-Ufer sah gewiss noch adretter und einladender aus als heute; dabei ist das immer noch eine einladende Ecke auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenzstadt. Diese Gärtnerei hat nicht nur Straßen und Plätze der Stadt hübsch gemacht, sondern sich auch um den Garten des damaligen Bürgermeisters Hübner gekümmert. Der erzählt die Geschichte so: An einem Tag habe der Gärtnermeister ihn angerufen. Er sei gerade in der Nähe von Hübners Privatgrundstück. Das Gras stehe ja so hoch, und er, der Klaus, habe doch bestimmt keine Zeit, sich zu kümmern, weil er immer so lange arbeiten müsse als Bürgermeister. Täglich bis 22 oder gar 23 Uhr, so erzählt Hübner. Jedenfalls habe er damals den Fehler gemacht, Ja zu sagen. Der Gärtner mähte kostenlos den Rasen, „und ich bin dann später hin und hab denen zwanzig Euro gegeben“. Da sei er wirklich zu leichtfertig gewesen. Mehr, versichert Hübner, sei aber nicht passiert.

Frank Winter hat etwas ganz anderes herausgefunden. Der Oberstaatsanwalt arbeitet in Neuruppin und ist für ganz Brandenburg der Chef-Ermittler in Sachen Korruption. Nicht nur den Rasen gemäht, sondern das gesamte Grundstück gepflegt und umgestaltet hat die Firma, dazu Bäume und Sträucher gepflanzt, alles Leistungen und Waren im Wert von „mindestens 10 000 Euro“, ohne dass Bürgermeister Hübner etwas bezahlen musste. So hat es die Staatsanwaltschaft bewiesen, und so hat es das Gericht festgestellt. Und auch, dass Hübner in fünf Fällen Anwaltsrechnungen in Höhe von insgesamt 7 000 Euro wegen Disziplinarverfahren aus der Stadtkasse bezahlt hat, obwohl er sie privat hätte zahlen müssen. Dabei ging es meist darum, dass er das Stadtparlament übergangen hat. Winter wundert sich: „Anderswo gibt es ein Riesengeschrei, wenn jemand mal eine private Fahrt mit dem Dienstwagen macht und ein Kind in den Kindergarten bringt. Und in Guben? “

„Er hat im Wahlkampf nur von Ordnungswidrigkeiten erzählt“, sagen Koschacks, die braven Rentner, die sich früher nie sehr für Politik interessiert haben, auch nicht für die in Guben. „Vielleicht hätten wir uns doch einmal das Urteil zeigen lassen sollen“, schiebt Bärbel Koschack hinterher. Jetzt ist der kleine Esstisch voll mit Papier. Zeitungsberichte, fein ausgeschnitten, auch ein Antwortbrief vom Landrat. Eine Passage in einem Zeitungskommentar haben sie unterstrichen: „Man muss darauf vertrauen können, dass der Gang zur Wahlurne mehr ist als ein scheindemokratisches Lustwandeln.“ Genau, betont Werner Koschack. Sonst wäre das ja wie in der DDR. Nun aber haben 4 679 erwachsene Gubener den Mann gewählt, „und da soll er doch für sein Geld auch arbeiten“. Schließlich sei Hübner auf Bewährung verurteilt und solle sich nun eben bewähren; er bekomme ja auch viel Geld dafür. 7 500 Euro monatlich, hat eine brandenburgische Zeitung ausgerechnet.

Bärbel und Werner Koschack erinnern sich an den größten Coup der Ära Hübner. Als der umstrittene Professor Gunther von Hagens vor über zehn Jahren plante, in einer ehemaligen Fabrik an der Neiße Leichen zu präparieren und auszustellen, gab es heiße Debatten. Viele Stadtverordnete hatten moralische Bedenken. Bürgermeister Hübner aber sah die Chance auf 200 Arbeitsplätze und die touristische Zugkraft des „Plastinariums“. Da lud er „die Gubener“ zu einer Bürgerversammlung in eine Halle des Chemiewerkes ein. 800 kamen, und Hübner fragte: „Die Stadtverordneten sind gegen das Plastinarium – und was meint Ihr?“ 95 Prozent hätten sich für den umstrittenen Arbeitgeber entschieden, erinnert sich Werner Koschack.

Klaus-Dieter Hübner könnte sich zurücklehnen und wie andere 65-Jährige einfach nur Rente, vielmehr seine Pension beziehen. Aber es ist alles bergab gegangen, seit er nicht mehr da ist, sagt er beim Kaffee vor der Bäckerei in der Berliner Straße. Zwei Stunden lang reiht er Anekdote an Anekdote: wie er Gunter van Hagens abends um 23 Uhr erstmals im Geheimen traf; wie er die Verwaltung umkrempelte („Man muss prozesshaft denken“); wie er die Leute im Rathaus erst mal zum Arbeiten brachte, jeden Freitag um zwölf „alle Zahlen zu allen Projekten“ auf dem Computer-Bildschirm hatte und kontrollierte; wie er Fördermittel ranholte von überall, die Kriminalität in der Grenzstadt bekämpfte und dabei auch mit Ministern in Potsdam aneckte. Zwischendurch klopfen Passanten auf den Tisch oder winken im Vorübergehen. Jene, die bewundernd erzählen, wie der Herr Hübner sonnabends mit dem Fahrrad durch die Stadt fuhr und sofort im – bis zwölf Uhr geöffneten – Servicecenter anrief, wenn ihm etwas auffiel.

Die Geschichten, die Klaus-Dieter Hübner über sich erzählt, sind ähnlich unterhaltsam wie die des Käpt’n Blaubär. Seine Kritiker sagen: Sie sind auch genauso wahr. Und tatsächlich belegen Rathaus-Akten, dass sowohl der Umbau der Hutfabrik zum Bürgerzentrum als auch erste Schritte zur Ansiedlung des Plastinariums vor Hübners Amtsantritt eingeleitet wurden.

Ob man ihn nicht trotzdem einfach seine Arbeit machen lassen soll, damit wieder Frieden einkehrt in der Stadt? „Man kann doch für den sozialen Frieden nicht den Rechtsstaat opfern“, sagt eine langjährige Kommunalpolitikerin, die, wie fast alle Hübner-Kritiker, spürbar geschockt und ratlos ist und lieber anonym bleiben will. In Guben ist wenig normal in diesen Wochen.