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Das Rätsel um den ersten Gast

Am Eröffnungstag vor 30 Jahren verewigte sich ein Zeichner in der Sebnitzer Brückenschänke. Jetzt gibt es ein Wiedersehen.

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© Dirk Zschiedrich

Von Dirk Schulze

Sebnitz. Bei dieser Karikatur hat einer die Feder geführt, der sein Handwerk versteht, so viel ist klar. Die Ähnlichkeit mit den Originalen ist offensichtlich: Wirtin Barbara Motz mit dem breiten Lächeln und der Brille hält das Tablett mit dampfendem Essen in die Höhe, daneben ihr Ehemann Andreas mit Kochmütze und Schürze, damals noch mit vollerem Haar. Vor den Wirtsleuten der Brückenschänke in Sebnitz steht ein Bärtiger mit Frau und Tochter, zu seinen Füßen schaut ein Rabe hervor.

Die Zeichnung vom 11. August 1987 im Gästebuch.
Die Zeichnung vom 11. August 1987 im Gästebuch. © Dirk Zschiedrich

Auf den Tag genau dreißig Jahre alt ist diese Zeichnung. Sie entstand zur Neueröffnung der Brückenschänke am 11. August 1987 und ziert seitdem die erste Seite im Gästebuch des Hauses. Gezeichnet hat sie tatsächlich der allererste Gast. Wer sich dahinter verbirgt, blieb den Betreibern des 1877 erbauten Lokals lange ein Rätsel.

An die Begebenheit kann sich Andreas Motz noch gut erinnern. Es war gegen halb zwölf am Eröffnungstag, einem Dienstag. Noch bevor er die Gaststube aufgeschlossen hatte, klopften die ersten Gäste an die Tür – keine Bekannten, die zum Auftakt gratulieren wollten, sondern müde Wanderer, die hungrig waren. Familie Motz bewirtete ihre ersten Gäste und bat sie zum Abschied, sich im Gästebuch zur verewigen. In der Hektik des Gastronomiebetriebs geriet die Zeichnung dann in Vergessenheit. Der kleine Rabe und der Zeichenstil kamen ihr immer irgendwie bekannt vor, sagt Barbara Motz. Das Signum konnte sie jedoch nie wirklich entziffern. Es gab auch keinen Anlass, genauer nachzuforschen.

Als es an die Vorbereitung des 30. Jubiläums der Brückenschänke ging, fiel ihr das erste Gästebuch wieder in die Hände. Sie drehte die Buchstaben des Namenszugs gedanklich hin und her – und auf einmal war es klar: Achim Jordan stand unter dem Bild geschrieben. Eine Suche bei Google, ein Treffer: Achim Jordan, Grafiker und Karikaturist, wohnhaft in Leipzig. „Das ich ihn nicht eher gefunden habe verwundert mich etwas“, sagt Barbara Motz.

Jordans Karikaturen waren in internationalen Ausstellungen zu sehen, zunächst in der damalige Sowjetunion, Kuba, Bulgarien, später in der Schweiz, in Belgien und Großbritannien. Von 1960 bis 1990 war er Pressezeichner der Leipziger Volkszeitung. In dieser Zeit schuf er etwa 38 000 Karikaturen und Zeichnungen. Nach der Wende machte er sich als Grafiker und Karikaturist selbstständig, veröffentlichte unter anderem in der FAZ, der Taz und dem Eulenspiegel, zeichnete Cartoons für Ausstellungen, Unternehmen, Kinderausmalhefte und Würfelspiele. Aktuell arbeitet Jordan, der im Oktober 80 Jahre alt wird, an seinem dritten Buch.

In seiner Wohnung unweit des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig klingelte vor wenigen Wochen das Telefon. Am Apparat war Barbara Motz aus Sebnitz – eine große Überraschung. „Meine Frau und ich waren ganz gerührt“, sagt Jordan. Den Ausflug vor 30 Jahren hat er noch lebhaft vor Augen. „Unser U-Boot-Urlaub“, ruft er mit einem lauten Lachen. Bei strömendem Regen marschierte die Familie die Straße entlang auf der Suche nach den Sebnitzer Sehenswürdigkeiten. „Das Wasser lief vorn in die Schuhe rein und hinten wieder raus.“ Bei vier Gaststätten hatten die durchnässten Wanderer schon vergebens Schutz gesucht – alle geschlossen. Verzweifelt klopften sie an die Tür der Brückenschänke, die eigentlich erst später an diesem Tag öffnen wollte, und wurden eingelassen. „Diese neue Blume in der Stadt der Kunstblumen“, schrieb Achim Jordan ins Gästebuch.

Zum 30. Jahrestag der Eröffnung kehren Achim und Beate Jordan an diesem Freitag wieder in der Schänke ein, auf Einladung von Familie Motz. Ihre Tochter, die damals mit dabei war, lebt mittlerweile auf der Isle of Man bei Großbritannien. In der Sächsischen Schweiz und in Dresden war der Kunstliebhaber in den vergangenen Jahren regelmäßig. Sebnitz besuchen die ersten Gäste der Brückenschänke nun zum ersten Mal nach 30 Jahren. Ein paar große Papierbögen und Stifte liegen bereit.