Merken

Das letzte Wort

Dietmar Bretschneider spricht, wenn alle anderen schweigen. Seit über 20 Jahren hält er Trauerreden für Hinterbliebene. Dabei hat er schon alles erlebt – von Verzweiflung über die finale Abrechnung bis zu Handgreiflichkeiten.

Teilen
Folgen
© Claudia Hübschmann

Von Dominique Bielmeier

Neunzig Jahre alt wäre sie in diesem Jahr geworden. „Die Kinder haben Rotz und Wasser geheult“, erzählt Dietmar Bretschneider über seinen Besuch bei den Angehörigen vor wenigen Tagen. „Es ist also nicht entscheidend, wie alt jemand geworden ist, sondern wie man zueinandergestanden hat.“ Eine glückliche Ehe habe die Frau geführt, als Lehrerin mit Leib und Seele sei sie für viele Kollegen ein Vorbild gewesen. Die Enkel und Urenkel kamen immer gerne zu den Großeltern, auch das Verhältnis zu den Nachbarn war gut. Als sie irgendwann dement wurde, kümmerten sich ihr Ehemann, die Tochter und Schwiegertochter um sie.

Dietmar Bretschneider hat die Verstorbene nie getroffen und weiß doch so viel über sie. Mit einem Stift fährt er die Stichpunkte auf einem zweiseitig beschriebenen Blatt entlang, Abkürzungen, die nur er entziffern kann, wie „Lehrerin mit Leib und Seele“. Anhand eines solchen Fragebogens, den er zusammen mit den Hinterbliebenen erstellt, wird der 67-Jährige schließlich die rund 20-minütige Rede über das Leben der Verstorbenen schreiben.

Für das Texten braucht er rund anderthalb Stunden, manchmal auch drei oder vier, bei schwierigeren Reden. An seinen allerersten Texten saß er manchmal ganze 13 Stunden lang. Über 20 Jahre ist das inzwischen her und Dietmar Bretschneider hatte damals schon eine Erwerbsbiografie hinter sich, die für drei Menschen reichen würde.

„Ich hatte immer Jobs, die mit Menschen zu tun haben“, erzählt Bretschneider in einem winzigen Raum im Meißner Krematorium. Hier bespricht er vor den Trauerfeiern häufig noch Details mit den Angehörigen. An diesem Morgen hat er bereits eine Rede gehalten, er trägt noch den dunkelgrauen Anzug mit weißem Hemd und hellgrauer Krawatte. Einer von vier Anzügen, zwei für den Sommer, zwei für den Winter, in „gediegenen“ Farben. Schwarz zu tragen, davon halte er nichts.

Einer der entscheidenden Unterschiede zu früher: In seinen damaligen Jobs lebten die Menschen. Bretschneider ist zunächst Maschinist im Kraftwerk Schwarze Pumpe, schon mit 19 Jahren trägt er als Obermaschinist Verantwortung für eine Handvoll Mitarbeiter im Kesselhaus. Da ist Durchsetzen wichtig. „Ich war ja noch ein junger Spund und musste Leuten über 50 Weisungen geben“, sagt Bretschneider.

Drei Jahre arbeitet er im Kraftwerk, dann studiert er an der Offiziershochschule in Löbau. 25 Jahre lang soll er danach in der Truppe in Eggesin bei Ueckermünde Dienst machen. „Wir nannten es ‚Das Grab der Jugend‘“, sagt Bretschneider. Auch als „Land der drei Meere“ wird der Ort in Mecklenburg-Vorpommern scherzhaft bezeichnet. „Das Sandmeer, das Kiefernmeer – und dann nüscht mehr“, erklärt Bretschneider lächelnd.

Also kehrt er zurück aus dem Norden und arbeitet als Ausbilder an der Schule im damaligen Synthesewerk Schwarzheide, macht ein Zusatzstudium zum Pädagogen. Danach unterrichtet er an einer Berufsschule in Schwarzheide.

In der Wendezeit verlässt er die Region und zieht mit seiner damaligen Partnerin nach Riesa. „Ich hatte die Nase voll, immer für irgendwen verantwortlich zu sein“, sagt Bretschneider. Er arbeitet nun in der Abteilung Materialwirtschaft im Rohrwerk in Zeithain – und ist dort verantwortlich für 35 Arbeiterinnen. „Das war mit das Schwierigste, was ich in meinem Berufsleben hatte“, erzählt er. „Ich habe mehr Sozialkonflikte lösen müssen als Arbeitsaufgaben erledigen können.“

Danach wird Dietmar Bretschneider arbeitslos, wie so viele Menschen in den Wendejahren. Fast fünf Jahre lang bleibt das so, als Selbstständiger ist es nicht so leicht, etwas zu finden, und er hat sich geschworen, er werde nie mehr abhängig beschäftigt sein.

Durch Zufall liest er in der Zeitung den Aufruf eines Bestatters aus Großenhain, der auf der Suche nach einem Redner für eine Trauerfeier ist. Bretschneider bekommt einen fiktiven Todesfall als Übungsaufgabe, zieht über Friedhöfe und hört sich die Reden von anderen an. „Da habe ich manches gehört, von dem ich dachte: Das könnte auch mein Stil sein.“

Seine erste richtige Rede hält er dann jedoch in Meißen, im Krematorium von Jörg Schaldach, das als günstigstes in Deutschland gilt. „Er hat mich wirklich ins kalte Wasser geschmissen“, erzählt Bretschneider. An seinem allerersten Tag muss er drei oder vier Reden halten. „Und die Hütte war voll, ich habe Blut und Wasser geschwitzt.“ Aber sein Einstieg als freier Redner gelingt – zumindest ein halbes Jahr lang, bevor er sich wieder in die Arbeitslosigkeit verabschieden muss. Als das Arbeitsamt knapp zwei Jahre später Druck macht, versucht Bretschneider es erneut als Redner. Diesmal hat er Erfolg.

Rund 80 Prozent seiner Reden hält er heute im Krematorium in Meißen. Zwischen 150 und 200 Euro verdiene ein Redner in der Region, sagt Bretschneider; sollen die Fragebögen statt telefonisch bei Hausbesuchen ausgefüllt werden, kostet das rund 50 Euro extra. Geld, das der 67-Jährige zum Aufbessern seiner Rente nutzt. „Was soll ich zuhause rumsitzen und meine Fische angucken oder die Wände?“

Regional sind die Preise ganz unterschiedlich, in Lauchhammer, wo Bretschneider aufgewachsen ist, verdiene ein Redner schon um die 250 bis 300 Euro. Einmal sieht er eine Fernsehreportage über einen Trauerredner in den alten Bundesländern. „Ich dachte, ich spinne – 450 Euro!“, sagt Bretschneider. Dagegen würde er in Bayern, wo seine zwei Töchter wohnen, wohl verhungern, vermutet er. „Ich glaube nicht, dass dort überhaupt mal eine weltliche Trauerfeier gehalten wird.“

Noch etwas ist ihm an der Reportage unangenehm aufgestoßen: „Manche Redner legen so viel Pathos in ihren Beruf, das nehme ich ihnen nicht ab.“ Manchmal setzt er sich aus Neugier in die Trauerfeiern von Konkurrenten und wundert sich. „Man denkt, der Redner gehört zur Familie. Das geht doch nicht.“ Ältere Redner erzählten sogar mal ihre eigenen Kriegserlebnisse. „Aber das ist nicht mein Stil.“

Bretschneider distanziert sich bewusst von der Trauergesellschaft, nicht nur emotional. „Für mich ist es ein Beruf wie jeder andere. Ich muss abschalten können.“ Die Einladungen, noch mit in die Gaststätte zu kommen, lehnt er aus Prinzip ab.

Seine Aufgabe sei es, „Mittler der Hinterbliebenen zu sein, um für einen Menschen, der ihnen sehr nahe stand, noch ein Letztes im Positiven zu tun, nämlich diese Rede vernünftig auszurichten“. Und zwar so, wie es die Angehörigen wollen.

Und genau das ist die wohl größte Schwierigkeit an seinem Beruf. Denn oft sind sich die Hinterbliebenen nicht einig, wie sie sich an einen Verstorbenen erinnern wollen. Bretschneider kann jedoch nur eine Fassung erzählen – desjenigen, der mit ihm über den Toten gesprochen hat. „Da gibt es nichts, was ich nicht schon gehört habe“, sagt der Trauerredner. „Alle Höhen, alle Tiefen.“ Mord und Totschlag, Alkohol, verprügelte Kinder, eine schlechte Ehe. Alles Dinge, die er in der Rede nicht ansprechen oder neutral darstellen wird.

Vielleicht der Grund, warum in einer seiner Reden einmal eine Frau aufsprang und ihrem Mann die Blumen um die Ohren hieb. Ein anderes Mal prügelten sich die zerstrittenen Trauerparteien nach der Feier sogar. Ein Bruder nutzte den Tag der Beerdigung zur Abrechnung. „Der kam hier an, hat in den Sarg geschaut und gesagt: Du Arschloch, jetzt hast du’s endlich geschafft“, erzählt Bretschneider. Manchmal muss er eine Rede kurz unterbrechen und die anwesenden Gäste darauf hinweisen, dass es sich um eine Trauerfeier und nicht um eine Hochzeit handelt.

Dass er seine Sache gut macht, sagt Bretschneider, zeige sich dadurch, dass er nach über 20 Jahren noch dabei sei. Der Konkurrenzdruck ist hoch, es gibt viele, die den Beruf gerne machen würden. Trotzdem gibt es auch Todesfälle, bei denen Bretschneider es ablehnt, die Rede zu halten. „Ich mache es grundsätzlich nicht bei Personen, mit denen ich über viele Jahre zusammengearbeitet habe.“ Genauso tabu sind Familienmitglieder. „Man ist emotional zu nah dran.“

Als seine Mutter starb, war für ihn schnell klar, dass er selbst die Rede schreiben und halten würde. “Aber ich habe dagestanden und kein Wort rausbekommen.“ Schließlich hat seine Schwester für ihn übernommen. „Dabei bin ich eigentlich gar nicht so der emotionale Typ“, sagt Bretschneider.