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Das Kind im Keller

Unsere Autorin war vier Jahre alt, als Bomben auf ihr Haus in Dresden fielen. Nur mit Müh und Not entkam sie damals dem Feuer. Bis heute erträgt sie keine verschlossenen Türen.

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© Georg Beyer

Von Christa-Maria Callori-Gehlsen

Seit Monaten blicken mir im Fernsehen und von den Titelblättern der Zeitschriften erschrockene Kinderaugen entgegen. Sie stehen verstört vor ihren zerbombten Häusern. Wenn sie Glück haben, sind ihre Eltern oder Verwandte bei ihnen. Mir ist dieses Gefühl aus ferner Vergangenheit bekannt, es hat sich in mir eingenistet. Ich weiß, was in den Kinderseelen vorgeht, denn ich war so ein Kind, das eines Morgens schreckgelähmt und übermüdet auf die Trümmer seines Hauses blickte. Zum Glück waren dort alle Menschen lebend davongekommen.

Christa-Maria Callori-Gehlsen wurde 1940 in Rom geboren und kam als Dreijährige nach Dresden. Hier ging sie zur Schule und legte ihr Abitur ab. Später studierte sie in Rom, arbeitete als Übersetzerin und Herausgeberin. Heute lebt sie in Lörrach, fühlt sic
Christa-Maria Callori-Gehlsen wurde 1940 in Rom geboren und kam als Dreijährige nach Dresden. Hier ging sie zur Schule und legte ihr Abitur ab. Später studierte sie in Rom, arbeitete als Übersetzerin und Herausgeberin. Heute lebt sie in Lörrach, fühlt sic © privat
Die kleine Christa-Maria im April 1946 in Dresden. In ihrem Text nennt sie sich „das Kind“. Mit dieser Distanz fiel ihr das Schreiben leichter, sagt die heute 76-Jährige.
Die kleine Christa-Maria im April 1946 in Dresden. In ihrem Text nennt sie sich „das Kind“. Mit dieser Distanz fiel ihr das Schreiben leichter, sagt die heute 76-Jährige. © privat
Das Haus der Tante von Christa-Maria Callori-Gehlen im Stadtteil Blasewitz. Im Keller versteckten sie sich zusammen mit den Nachbarn, um vor den Bomben in Sicherheit zu sein.
Das Haus der Tante von Christa-Maria Callori-Gehlen im Stadtteil Blasewitz. Im Keller versteckten sie sich zusammen mit den Nachbarn, um vor den Bomben in Sicherheit zu sein. © privat
Dieses Bild vom Feuersturm in Dresden besteht aus drei aneinandergeklebten Fotografien. Aufgenommen wurden sie in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945.Fotos: , Privat (3)
Dieses Bild vom Feuersturm in Dresden besteht aus drei aneinandergeklebten Fotografien. Aufgenommen wurden sie in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945.Fotos: , Privat (3) © Georg Beyer

Meine Eltern lebten in Berlin und hatten mich zu meiner Tante nach Dresden gegeben, weil sie die Stadt für sicher hielten. Wie schon seit vielen Nächten wurde ich am 13. Februar 1945 aus dem Tiefschlaf gerissen. Vorsorglich hatten die Erwachsenen mich angekleidet ins Bett gelegt, damit sie mich ohne Zeit zu verlieren direkt in den Keller bringen konnten. Dieser war als besonders sicher begutachtet worden, weshalb auch die Bewohner der umliegenden Häuser in der damaligen Marschall-Allee, heute Händelallee, in Blasewitz hierher kamen. Der Stadtteil liegt am Rande des Stadtkerns von Dresden, wo das Grauen unbeschreibliche Ausmaße erreichte.

Kaum war der Alarm verhallt, erschienen am Himmel die bombenspeienden Flugzeuge. Sie warfen mit wahlloser und flächendeckender Zerstörungsabsicht tonnenweise Spreng- und Brandbomben über der Stadt ab. In den vergangenen siebzig Jahren wurde oft darüber geschrieben und über die Zahl der Toten gestritten. Aber was bedeutet schon eine Zahl? Was zählt, ist das Leid jedes Einzelnen.

Während die Bomben vom Himmel fielen, herrschte im Keller eine bedrückende Stille. Der Putz bröckelte, losgelöst durch entfernte Erschütterungen, mit einem fast unhörbaren Geräusch von den Wänden. Kinder schluchzten. Das Kind, das ich damals war, traute sich nicht zu weinen. Die Kerzen flackerten gespenstisch, ein leichter Luftzug ging durch den Keller. Vor dem unruhigen Licht versuchten die Erwachsenen die Kinder durch Schattenspiele aufzuheitern. An der Kellerwand erschien ein Hund. Er entstand, indem Daumen, Zeigefinger und kleiner Finger zusammengeführt wurden, das war die Hundeschnauze, die durch Öffnen und Schließen der Finger auch bellen konnte. Die Ohren bildeten die aufrecht gestellten mittleren Finger. Das seltsame Tier lenkte zwar ab, aber wirklich lustig wirkte es nicht – eher etwas fehl am Platz.

Dieses harmlose Spiel wird das Kind ein Leben lang an die Bombennächte im Keller erinnern. Irgendwann im Laufe der Nacht – der erste Alarm war kurz vor zehn Uhr abends erfolgt – stürzten die Männer und die Hausbesitzerin nach draußen in den Garten, weil Waschhaus und Geräteschuppen Feuer gefangen hatten. Es konnte mit Müh und Not gelöscht werden.

Nach ängstlichem Warten auf das Heulen der Sirenen, die das Ende des Alarms ankündigen sollten, kam nach Mitternacht die zweite Angriffswelle. Irgendwann, ohne dass die Bewohner es bemerkt hatten, waren Phosphorbomben auf das Haus abgeworfen worden. Das ganze Haus brannte bereits lichterloh, als der Geruch von Rauch zu den Menschen im Keller drang. Er war zwar einsturzsicher, wäre uns aber um ein Haar zum Grab geworden. Gleich neben der Kellertür befand sich der Ausgang zum hinteren Teil des Gartens. Er war jedoch durch herabgestürzte glühende Balken versperrt. Alles war in ein tiefes Rot getaucht, die Hitze unerträglich. Das Kind hat vieles vom Verlauf dieser Nacht aus den Erzählungen der Erwachsenen erfahren, aber einige Eindrücke haben sich ihm tief ins Gedächtnis gebrannt. Dazu gehört das unbeschreibliche Feuerrot in dieser Nacht. Es ist ein schmerzhaftes Erstaunen, als das Kind später, dann schon erwachsen, in Akira Kurosawas Film „Rhapsodie im August“ genau diesen Farbton wiedererkennt. Er scheint am Himmel hinter den Bergen auf, als sich die alte Frau an den Feuersturm nach dem Abwurf der Atombombe im japanischen Nagasaki erinnert.

Es blieb nur der Weg durchs Haus, um auf der anderen Seite über die Veranda aus dem brennenden Gefängnis zu kommen. Alle Fenster im Untergeschoss, auch die Verandatür, waren mit schmiedeeisernen Gittern versehen. Im dichten Rauch konnte die Tante des Kindes, das kleine, ihr zum Schutz anvertraute Mädchen im Arm, nicht gleich den Schlüssel zur Verandatür finden. Als sie ihn schließlich nach beklemmenden Sekunden auf dem Schreibtisch ertastete, öffnete sich der Weg ins Freie, vorbei an den brennenden Korbmöbeln auf der Veranda. Es gab wieder Luft zum Atmen. Das Haus stand in Flammen. Nie wieder im Leben wird das Kind eine abgeschlossene Tür ertragen. Lange weiß es nicht warum.

Auf dem Weg zu Verwandten am anderen Elbufer, am Hang von Oberloschwitz, kamen die Überlebenden an Menschen vorbei, die reglos am Boden lagen. Das Kind fragte die Erwachsenen, warum sie auf der Straße schliefen und nicht ins Bett gingen. Was Tod ist, wusste es damals noch nicht. Es sollte jedoch bald davon erfahren.

Irgendwann am 14. Februar stand das Kind mit seiner Tante vor den Trümmern des Hauses. Es züngelten noch Flammen zwischen den zusammengestürzten Mauern und Balken. Das Bild ist noch lebendig, aber das Gefühl von damals verschwommen: Unverständnis und Müdigkeit.

Der Keller ist in der Erinnerung des Kindes nicht nur ein Ort der Angst, sondern auch ein Ort, an dem viele Köstlichkeiten aufbewahrt wurden. Noch vom vergangenen Sommer lagen in luftigen Regalen die Äpfel und dufteten. In anderen Regalen standen große Einmachgläser mit Obst und Gemüse, aber auch kleine Gläser mit Marmelade. Entlang der Treppe nach unten befanden sich kleine Nischen, in denen während der warmen Jahreszeit Butter und Milch abgestellt wurden, weil es dort kühl war. Dem Kind war schon vor dem Angriff etwas gruselig zumute, wenn es dorthin geschickt wurde, um etwas zu holen. Alles blieb unversehrt und die Reichtümer konnten unter den Trümmern ausgegraben werden. Sie dienten noch eine ganze Weile dem täglichen Überleben.

Das Kind in Dresden hatte trotz allem Glück. Der Krieg war bald zu Ende, und es begann ein fast normales Leben. Es konnte mit anderen Kindern wieder draußen spielen, obwohl noch eine Zeitlang Gefahr drohte, wenn Tiefflieger heranflogen. Dann hieß es: sich auf den Boden werfen. Wie für Kinder typisch, erlangten auch die dem Dresdner Inferno entkommenen Kinder bald ihre Unbeschwertheit zurück und fanden es lustig, sich auf den Boden fallen zu lassen. Aber das Kind wird noch lange, auch als erwachsene Frau noch, beim brummenden Geräusch der alten Kriegsflugzeuge den Impuls verspüren, sich auf den Boden zu werfen. Zu besonderen Anlässen wurden die Maschinen immer mal wieder in die Luft geschickt.

Dann kam endgültig der Frieden. Nie wieder Krieg, unter diesem Motto wuchsen wir Nachkriegskinder auf. Doch es blieb eine leere Hülse. Immer wieder gab es, zwar nicht in Deutschland, in den vergangenen 70 Jahren Kriege. Und wenn auch indirekt, so waren wir Deutschen daran beteiligt. Und immer wieder sind es Kinder, die in Kellern zittern, nicht verstehen, was geschieht, und nur die Angst ihrer Eltern spüren, die sich auf sie überträgt. Die nicht wissen, warum Bomben um sie herum explodieren. Die auf der Straße reglose Menschen sehen und sich fragen, warum sie dort schlafen. Kinder, die im Arm ihrer Eltern vor den Trümmern ihrer Häuser stehen, vor den Trümmern eines Lebens, das ihnen nicht vergönnt ist zu leben. Und die Gefahr für diese Kriegskinder ist heute noch größer. In Dresden kamen Sprengbomben und Phosphor von oben. Heute verwandeln sich sogar Menschen in Bomben.

Die Deutschen, die ein solches Inferno überlebt haben, sind ganz besonders aufgerufen, sich solidarisch mit den Menschen zu erklären, die eine ähnliche Hölle durchschritten haben und sie noch immer durchschreiten. Es darf daher nicht sein, dass aus Deutschland tödliche Waffen in Regionen gelangen, in denen sie zum Einsatz gegen Zivilisten eingesetzt werden. Waffen können keinen Frieden schaffen, sie bringen nur Unheil und Tod.

Wenn ich Bilder von der syrischen Stadt Aleppo sehe, aufgenommen aus der Luft, erinnern sie mich frappierend an das zerstörte Dresden – und an das Kind, das ich einmal war. Sie erinnern mich daran, dass wir unter jenen, die aus Syrien und anderen Kriegsregionen hierher kommen, den Kindern besondere Aufmerksamkeit schenken, damit die Bilder, die sich in ihre Seelen gebrannt haben, durch friedlichere und freundlichere überdeckt werden.