Merken

Das Fest und die liebe Zeit

In unserer Weihnachtsausgabe geht es um die Zeit. In dieser Geschichte stellen wir zwei Görlitzer vor, die die Zeit in diesen Tagen unterschiedlich verbringen.

Teilen
Folgen
© Nikolai Schmidt / Pawel Sosnowski

Von Ines Eifler

Der Ruhepol

Braumeister Matthias Grall lässt den Dingen die Zeit, die sie brauchen. Erst recht zu Weihnachten.

Damit aus einem Bier ein richtig gutes Bier wird, braucht es Zeit. Drei Monate Lagerzeit für ein Starkbier sind für Matthias Grall ganz selbstverständlich. Davon lässt er sich nicht abbringen, egal wie neugierig seine Kollegen manchmal auch sein mögen. Das alte Motto „Gut Ding will Weile haben“ trägt ihn durch sein berufliches, aber auch sein privates Leben.

Mit Ruhe und Geduld hat der Braumeister und Mitgeschäftsführer der Landskron Brauerei schon Bier mit Whiskey und Portwein veredelt, mit Ouzo, Kaffee und Birnengeist. Wenn Matthias Grall ein neues Gourmetbier kreiert, beginnt das für ihn mit einem Moment der Inspiration. Der lag bisher fast immer außerhalb seines Alltags, im Urlaub, in der Ferne, auf dem Motorrad, wenn kein Telefon störte: wenn er den Kopf frei hatte, sich auf einen neuen Geschmack einzulassen. Diesen ersten Impuls lässt er dann langsam über Wochen reifen, beginnt zu experimentieren, probiert verschiedene Verfahren aus, um die Geschmäcker zusammenzubringen, braut das Getränk zum Test, höchstens dreimal, um dann in einem einzigen großen Sud so viel davon herzustellen, dass es für 15 000 Flaschen reicht. „Dann muss ich mir sicher sein, dass es gut ist“, sagt er, „sonst geht viel Geld und Kraft verloren.“

Etwas in Ruhe zu planen, vorzubereiten und dann entschlossen umzusetzen, das ist für Matthias Grall mehr als nur berufliche Disziplin. „Ich gehe die Dinge auch sonst recht überlegt an“, sagt er, „ich stürme nie drauf los.“ Das zeigte sich schon in seiner Kindheit. Als kleiner Junge war er zum Beispiel fasziniert davon, wie sein Vater und sein älterer Bruder miteinander Schach spielten. Mit sechs Jahren begann er selbst damit, mit zehn spielte er im Verein. „Beim Schach muss man dabeibleiben, da kann man nicht einfach aufstehen und etwas anderes anfangen.“

Mit Bedacht entschied Matthias Grall im Jahr 2000 auch seinen Wechsel nach Görlitz, bewusst zu einer Brauerei, die im Unterschied zu den meisten Konkurrenten auf offene und damit langsamere Gärung setzt. Und viel Zeit ließen sich seine Frau und er, bis sie 2008 ein denkmalgeschütztes Haus in der Görlitzer Innenstadt gefunden hatten, das sie nach ihren Wünschen mit viel Eigenleistung sanieren konnten. „Drei Jahre haben wir gesucht, nach zwei Jahren sind wir eingezogen, aber ganz fertig sind wir immer noch nicht“, sagt Matthias Grall. Der Hof ihres Hauses auf der Bautzener Straße dauert noch: „Auch das soll kein Schnellschuss sein.“

Allen Dingen genau die Ruhe und die Zeit zu geben, die sie brauchen, und trotzdem flexibel sein: ein Geheimnis? Bei Matthias Grall steckt auch dahinter gute Planung. Wenn er wollte, könnte er im Dauerstress leben. „Aber ich wähle sehr genau aus, welche Termine wirklich notwendig sind“, sagt Grall, „und lasse genug Pausen dazwischen.“ Aufgaben in der Brauerei, die er nicht unbedingt selber wahrnehmen muss, gibt er dankbar an seine Kollegen ab. „Nur so kann ich meinem eigentlichen Beruf gerecht werden“, sagt er. „Wenn ich kreativ sein möchte, muss ich mir den Raum dazu schaffen. Und das Privatleben darf auch nicht zu kurz kommen.“

Dazu nimmt er sich über die Feiertage besonders viel Zeit. Mit seiner Frau und den beiden Söhnen, 15 und 17, bleibt die Familie unter sich. Besuche von Eltern oder Schwiegereltern, die aus Hessen und Bayern anreisen müssten, sind nicht eingeplant. Statt Weihnachtsstress gibt es Brettspiele, Spaziergänge mit Hund und gemütliche Mahlzeiten. Fondue am Heiligabend, Ente am 1. Feiertag, Raclette zu Silvester: Gerichte, die Zeit brauchen.

Der Wirbelwind

Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti ist immer in Bewegung. Den Jahreswechsel verbringt er in Großfamilie.

Die Vorstellung, dass er einmal nichts zu tun haben könnte, macht Andrea Sanguineti Angst. „Ich möchte mich nicht langweilen“, sagt der Generalmusikdirektor des Gerhart-Hauptmann-Theaters. „Ich liebe das Leben viel zu sehr, als dass ich wertvolle Zeit verschenken könnte. “

Deshalb ist jeder seiner Tage vollständig ausgefüllt. Und an nur einem Ort zu leben, reicht Andrea Sanguineti nicht aus. Als er 2013 nach Görlitz kam, war für ihn klar, dass seine Frau, ebenfalls Künstlerin, in Hannover bleibt. Seitdem pendelt er regelmäßig für ein paar Tage am Stück zu ihr und seinem fast dreijährigen Sohn, soweit es der Spiel- und Probenplan des Görlitzer Theaters erlaubt. Nebenbei unterrichtet er Musikstudenten in Dresden. Oft kombiniert er das mit einer Reise von oder nach Hannover. Außerdem übernimmt er gern Gastdirigate: Hinter ihm liegt eine „Traviata“ in Graz, vor ihm eine große Ballettproduktion in Hannover. Ende 2017 übernimmt er ein Gastdirigat in Sizilien, im April vielleicht noch eins in Norditalien. „Meine Arbeit in Görlitz geht aber immer vor“, sagt Sanguineti, „wenn ich eine wichtige Probenphase für ein Gastengagement verlassen müsste, könnte ich es nicht übernehmen und würde absagen.“

Wären andere völlig überfordert und nahe am Burn-out, wenn sie so ein volles Leben meistern müssten, fühlt sich Andrea Sanguineti darin äußerst wohl. „Ruhephasen bedrücken mich eher“, sagt er, „ich fürchte mich vor der Ziellosigkeit. Ich habe schreckliche Angst vor dem Tod und möchte deshalb so viel wie möglich erleben.“

Es habe aber schon Phasen gegeben, in denen er noch mehr unterwegs war als heute. Schon mit zehn oder elf Jahren nahm er einen Schulweg von täglich zweimal einer Zugstunde auf sich, um das Konservatorium in Genua besuchen zu können. „Meine Eltern waren immer sehr in Sorge, aber ich hatte damals schon ein Handy, mit dem ich erreichbar war.“ Als er um die 20 Jahre alt war und in Wien Orchesterdirigieren studierte, war er dienstags bis donnerstags in Wien an der Uni für Musik und Kunst, fuhr danach mit dem Nachtzug nach Ligurien, unterrichtete dort freitags und sonnabends an einer Musikschule, um sich sein Studium zu finanzieren, nahm montags Unterricht in Komposition am Konservatorium in Genua und fuhr dann wieder mit dem Nachtzug zum Studieren nach Wien. Die Sonntage nutzte er zum Üben und Lernen.

So enorm voll wie damals ist sein Leben jetzt nicht mehr. Eine Lehrtätigkeit in Würzburg hat er 2015 aufgegeben, als er in Görlitz am Theater stärker gebraucht wurde, dafür kam Dresden hinzu. In diesem September konnte er viele administrative Aufgaben abgeben, als Mark Schönwasser-Görke als Orchestermanager ans Theater kam. „Er ist ein alter Hase im Orchesterbetrieb und meine rechte Hand“, sagt Sanguineti. „Ich habe organisatorische Aufgaben immer gern gemacht, aber jetzt kann ich mich mehr auf die Musik konzentrieren. Das kann nur gut sein.“

Da diesmal zum Jahreswechsel seine Kollegen Ulrich Kern und Albert Seidl im Theater Dienst tun, hat Andrea Sanguineti zehn Tage am Stück frei und verbringt diese mit seiner Familie. Über Weihnachten kommen seine beiden Brüder, seine Eltern, seine Oma und die Familie seiner Frau nach Hannover. Silvester feiern dann alle in Italien. Mehrere Tage zu elft zu verbringen, das brauche einen Plan und müsse organisiert werden, sagt Andrea Sanguineti. „Weihnachten in Familie heißt bei uns also nicht etwa, dass da Ruhe ist. So werde ich auch über die Feiertage nicht in die Verlegenheit kommen, mich zu langweilen.“