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Das 100. Klassentreffen

Alfred Müller und seine Schulfreunde haben einen besonderen Weg gefunden, sich nicht zu verlieren.

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© Christian Juppe

Von Nadja Laske

Hundert Seiten hat das Buch und der Tag noch viele Stunden. Wenn beide zu Ende gehen, werden sieben Namen auf dem allerletzten Blatt stehen – manche mit Schwung dorthin gesetzt, andere mit unsicherer Hand. Aber alle mit Freude über das Wiedersehen. „Wir feiern unser 100. Klassentreffen“, sagt Alfred Müller und kichert über den erstaunten Blick. Zusammen mit rund 30 Klassenkameraden hat er 1944 die Volksschule verlassen. Nach der achten Klasse endete früher die Regelschule, heute ist Alfred Müller 88 Jahre alt. Eigentlich noch sehr jung für so viele Klassentreffen.

Zum ersten Mal haben sich die Knaben von einst 1966 als erwachsene Männer wiedergesehen. Zumindest 19 von ihnen saßen da zusammen und beschlossen, sich künftig zwei Mal im Jahr zu treffen. „Das haben wir durchgehalten“, sagt Alfred Müller und blättert in der Chronik, die so viel über das Kommen und Gehen im Leben erzählt. Über die Zeit haben sich zu den Schulfreunden von Treffen Nummer eins noch weitere gesellt. Später kamen die Namen der Ehefrauen dazu. Jedem Wiedersehen ist eine Seite im Buch gewidmet, die erinnert an Datum und Ausflugsziel, mal drängen sich die Signaturen in doppelter Reihe bis zum unteren Rand. Die letzte Seite indes lässt dem Abschied viel Raum.

„Wie viele sind Sie denn noch?“ – die Frage muss sich Alfred Müller schon gefallen lassen, wenn er von seinem 100. Klassentreffen berichtet. Die Antwort: ein schallendes Lachen. Und dann: „Wir sind zu zweit.“ Freundschaftlich nimmt er seinen Schulfreund Karlheinz Kutzsch am Arm. Dessen Verdienst sind unzählige frühere Treffen.

Nie zu alt für Jungenstreiche

Dass die kleine Wandergruppe nun auf Bahnsteig 18 des Hauptbahnhofes auf den Zug wartet, ist jedoch Alfred Müller zu verdanken. „Ich wollte zum Hundertsten etwas Größeres unternehmen und die anderen überraschen“, sagt er. Die anderen, das sind er und sein ehemaliger Mitschüler, ihre Frauen Renate und Ute sowie die Witwen dreier Schulfreunde. „Insgesamt leben noch sieben von uns, aber die anderen sind leider gesundheitlich sehr angeschlagen“, sagt Alfred Müller. Auf dem Bahnsteig schaut er in fragende Gesichter. „Ich verrate nicht alles, was ich heute mit euch vorhabe“, sagt er und freut sich wie über einen gelungenen Jungenstreich. Manch einer der Betagten sorgt sich, nicht gut genug zu Fuß zu sein und die Hitze schlecht zu vertragen. Doch der Wanderführer hat an alles gedacht. Von Dresden wird die Bahn das Grüppchen nach Bad Schandau bringen, von dort aus geht’s mit dem Taxi nach Gohrisch zum Mittagessen in Annas Gasthof. Eine Rundfahrt durch die Sächsische Schweiz und Picknick mit Kaffee und Kuchen hat Alfred Müller geplant, und dann den absoluten Höhepunkt: einen großartigen Blick über die Landschaft vom Rathmannsdorfer Aussichtsturm. „Der hat einen Lift, es muss sich also keiner hinaufquälen“, frohlockt Alfred Müller hinter vorgehaltener Hand.

Ihre Klassenkasse wollen die Ausflügler heute auf den Kopf hauen. Da sind rund 60 Euro drin, die haben sich über die Zeit angesammelt. Und weil es ja nun das letzte Klassentreffen sein soll, kann das Geld ruhig alle werden. „100 sind genug“, findet Alfred Müller, die Sache werde ja sonst auch langsam albern. „Womöglich bleiben am Ende nur meine Frau und ich übrig und sagen uns jeden Morgen: Heute haben wir wieder Klassentreffen.“

Seinen Humor hat er trotz harter Nachkriegsjahre und schwerer Krankheiten nie verloren. Bewundernswert fit ist Alfred Müller und reiselustig. Kürzlich habe er mit einem Freund einen Kurztrip nach Regensburg gewagt, eine tolle Zeit, erzählt er. Nun geht’s auf zur nächsten Reise. Der Zug fährt ein, die Aufregung steigt. Beinah hätte Alfred Müller seine Krücke stehen lassen. „Ich vergesse sie dauernd, weil es ja eine Weile auch ohne geht.“ Seine vorhergehende stehe wohl immer noch am Wanderweg in Italien. „Und die hier ist schon allein mit der Straßenbahn gefahren.“ Jetzt reist sie nach Bad Schandau.

Wie durch ein Wunder

Am Ende des Tages werden alle glücklich und zufrieden ihre Chronik schließen. Wie durch ein Wunder endet sie auf besagter letzter Seite. Zu den elf Klassenfahrten mit Reisebüro, den acht Gartenfesten, den sieben Skatabenden, dem Kegelvergnügen und all den geselligen Stunden bei gemeinsamen Essen gehört nun das wohl letzte wunderbare Erlebnis dieser Art.

Ihre Klassenkasse haben die Senioren übrigens erneut gefüllt. „Das Geld spenden wir der Hungerhilfe Afrikas.“