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Damals in Böhmen

Die Erinnerungen von Herbert Grund geben einen Einblick in das Leben der Deutschen vor der Vertreibung.

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© Steffen Neumann

Von Steffen Neumann

Usti nad Labem. Eigentlich sollten es 15 bis 20 Seiten werden, eine Ergänzung der Ortschronik von Rehlovice (Groß Tschochau) bei Usti nad Labem (Aussig). Am Ende wurden es über 150. Es sind die Erinnerungen des heute 87-jährigen Herbert Grund an seine Kindheit und Jugend in Haberschie, das heute Habri heißt und zu Rehlovice gehört. Sie liegen inzwischen als Buch mit dem Titel „Zurück in der Zeit“ vor und sind wertvolle Regionalgeschichte für eine Gegend, in der nach 1945 ein kompletter Bevölkerungsaustausch stattfand.

Fehlende Aufzeichnungen aus der Zeit um 1945 waren auch der Anlass, dass Grund nach fast 70 Jahren noch einmal alles aufschrieb, was ihn, der inzwischen in Scharnebeck bei Lübeck lebt, mit der alten Heimat verband. Die besucht der rüstige Rentner immer noch regelmäßig. Bei einem der Besuche bat ihn die Ortschronistin und frühere Bürgermeisterin Anna Rauerova, etwas zu dem von Tschechen an Deutschen begangenen Unrecht zu schreiben. Damit konnte Grund zwar nicht dienen, „denn ich selbst habe kein Unrecht erlebt und wir haben ‚unseren‘ Tschechen im Dorf keines angetan“. Das liegt sicher auch daran, dass Grund für seine Erinnerungen die Perspektive des Heranwachsenden wählte. Auch laufen Erinnerungen, die nach so langer Zeit aufgeschrieben werden, Gefahr, „unscharf oder verzerrt“ zu beschreiben, worauf er jedoch selbst gleich im Vorwort hinweist.

Dafür hat Rehlovice ein Stück persönliche Zeitgeschichte aus den Jahren 1936 bis 1946 zurückerhalten, die Bürgermeister Josef Machacek als „Bereicherung für die Gemeinde“ empfindet. Denn Grund beschreibt erstaunlich detailgetreu das Leben in Habri und den Nachbardörfern. Er schreibt über die soziale Zusammensetzung, die wirtschaftliche Lage in den Familien, welche Handwerker es gab, über die Lage von Gebäuden, Wegen und was auf Feldern und den Obstplantagen wuchs. Besonders faszinierte den späteren Agarökonomen die moderne Landwirtschaftstechnik, die damals Einzug hielt. Am besten lesen sich jedoch seine Beschreibungen des Alltags.

Äpfel, die noch grün waren, wurden „geklopft“, das heißt, sie wurden auf Stein weich geschlagen, bis sie braunes Fleisch hatten, und dann gegessen. Skier wurden aus den Dauben von Fässern selbst gebastelt. Obst und Beeren wurden eingerext (nach dem österreichischen Hersteller von Konservengläsern Rex). Grund hat einen Wortschatz erhalten, der bereits verloren schien. Ganz ausgespart bleiben Weltkrieg und Vertreibung natürlich nicht. Sie bilden aber eher den Hintergrund. Gerade die Kapitel nach 1945 sind spannend, denn die Familie musste die Heimat erst im August 1946 verlassen.

Das alles wäre nie aufgeschrieben worden ohne Anna Rauerova. Vor 1989 hatte ihr Vater, ein nach 1945 angesiedelter Tscheche, die alte Schulchronik des Ortes gerettet und seine Tochter sie später ins Tschechische übersetzt. Als Bürgermeisterin lud sie nach der Wende alle ehemaligen, also vertriebenen Deutschen, in die alte Heimat ein. Das brachte ihr daheim keine Punkte, weshalb sie prompt nicht wiedergewählt wurde. Aber die Treffen wurden fortgesetzt und das Interesse vor allem der jungen Generation an den Deutschen stieg.

Den entscheidenden Impuls, dass aus den Erinnerungen ein Buch wurde, gab die Künstlerin Lenka Holikova. Der Tschechin, die in Deutschland aufwuchs, gehört seit über 20 Jahren jenes Bauerngut, an dem vorbei Grund immer zur Schule ging. Heute befindet sich dort ein Kulturzentrum, das vor allem den deutsch-tschechischen Künstler- und Jugendaustausch fördert. In der Regie des Kulturzentrums wurde das Buch zweisprachig im Selbstverlag herausgegeben und kann per E-Mail ([email protected]) für 15 Euro bestellt werden.

So ist das Buch ein echtes deutsch-tschechisches Gemeinschaftswerk geworden. In Herbert Grund scheint es die Bindung zu seiner Heimat noch einmal gestärkt zu haben. „Wenn ich heute gefragt werde, wer ich bin, antworte ich: Ich bin kein Deutscher, ich bin Böhme“, bekennt er und hofft, dass sein Buch möglichst viele vor allem junge Leser findet.