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Bricht Europa auseinander?

Es muss allen klar sein: Die aktuellen Krisen sind nur gemeinsam zu bewältigen.

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© Caro/Andreas Bastian

Von Hans Vorländer

Nie, so scheint es, war die Krise größer: Eurokrise, Terrorkrise, Flüchtlingskrise, Ukrainekrise, der Krisenbogen von Syrien bis Afghanistan. Und mittendrin Europa: Zerrkräfte von außen und Fliehkräfte im Innern. Großbritannien vor dem Referendum, die Staaten Mittel- und Osteuropas genauso auf Distanz gehend in der Migrationsfrage wie die Staaten Südeuropas in der Schuldenfrage. Kann die Europäische Union den Krisen standhalten oder löst sie sich auf, weil sich die europäischen Gesellschaften im Inneren spalten und die europakritischen Kräfte immer stärker werden?

Zunächst einmal muss nüchtern bilanziert werden: Krisen haben den Weg der europäischen Integration von Anfang an begleitet, sie standen an ihrer Wiege, haben sie bislang aber auch immer weiter vorangetrieben. Die erste Verbindung von sechs Staaten in der „Montanunion“ genannten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zog eine historische Lektion aus der europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, aus zwei Weltkriegen. Einmal sollte der (west-)europäische Wiederaufbau vorangetrieben werden, dann aber, noch wichtiger, durch die Zusammenführung von deutscher Kohle und lothringischem Erz ein Mechanismus wechselseitiger Kontrolle etabliert werden, der die Partner so eng aneinanderband, dass sie keinen Krieg mehr gegeneinander führen könnten.

Die sich anbahnende Integration basierte also auf dem Kalkül, dass wechselseitige Verflechtung einen gemeinsamen Nutzen stiftet, nämlich Frieden, Wiederaufbau und Stabilisierung der jungen Demokratien zu befördern. Das schien auch zu funktionieren, wenngleich eine schnelle politische Integration, wie sie durch die sicherheitspolitische Verbindung im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bewirkt werden sollte, in den 1950er-Jahren scheiterte. Aber aus dieser Krise erhielt die europäische Vereinigung neuen Schwung, weil die Mitgliedsstaaten einen anderen Weg, den über die Herstellung einer Zollunion und eines Binnenmarktes wählten. Die wirtschaftliche Integration verlief zwar nie ohne Rückschläge, war aber doch so attraktiv, dass 1973 Großbritannien, Irland und Dänemark den Beitritt suchten wie dann in den 80er-Jahren auch Griechenland, Portugal und Spanien.

1989/90 war dann eine Wende in Europa und auch für die europäische Integration. Nicht nur fielen die Grenzzäune, vor allem wurde nun die europäische Integration ein gesamteuropäisches Projekt. Aus zwölf Mitgliedsländern 1990 wurden bis heute 28 Mitgliedsstaaten mit rund 500 Millionen Menschen. Das veränderte vieles. Die Vertiefung der europäischen Integration wurde zunächst zurückgestellt, es ging zuerst um die Stabilisierung demokratischer Systemtransformation, den Aufbau marktwirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Strukturen und die Sicherung eines geopolitischen Raumes des Friedens. Dann sollte das neue Europa auch ein politisches Gesicht bekommen. Das Projekt einer einheitlichen Verfassung aber scheiterte 2005.

Neben einer institutionellen Reform durch den Lissabon-Vertrag waren es vor allem zwei Neuerungen, die Mitgliedsländer und Bürger näher zusammenbringen sollten, einmal die Einführung einer gemeinsamen Währung in der Eurozone, zum anderen der kontrollfreie Grenzübertritt im Schengen-Raum. Beides droht nun zu scheitern.

In der Schulden-, Finanz- und Eurokrise hat sich ein Graben zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten aufgetan, der genau das Gegenteil dessen ist, was die Eurozone bezweckt hatte. Zwischen Süd und Nord gibt es keinen Konsens in der Frage, ob die EU (bzw. die Eurozone) eine Solidaritäts- und Schuldenunion oder eine Haushaltskonsolidierungsunion sein soll. Das Tandem Frankreich/Deutschland, traditionell der Motor Europas, ist uneins über den Kurs. Das drückt sich nicht zuletzt in der Einschätzung der Europäischen Zentralbank aus, die seit 2012, als dessen Präsident verkündete, alles zu tun, um den Euro zu retten, eine Politik des „billigen Geldes“ verfolgt. In der Griechenlandkrise hat sich dann zudem in den anderen Staaten der Eindruck verfestigt, dass Deutschland die Vormacht Europas geworden ist, die anderen Ländern ihre Politik, eine Art „finanzökonomischen Imperialismus“, aufzwingt.

Ähnlich verhält es sich mit der Flüchtlingskrise, nur scheinen die Auswirkungen auf die Architektonik Europas noch gravierender zu sein. Zum einen ist das gemeinsame europäische Asyl- und Migrationsregime zusammengebrochen. Dieses funktionierte schon länger nicht so, wie es angelegt war: Griechenland und Italien hätten als zuständige EU-Staaten die Außengrenzen sichern und Flüchtlinge registrieren und versorgen müssen, sie waren indes überfordert und wurden dabei unzureichend unterstützt. Sodann verlagerte sich die Flüchtlingsroute vom Seeweg über Nordafrika auf den Landweg über die Türkei, den Westbalkan und Ungarn. Schließlich sah sich die deutsche Bundeskanzlerin aus humanitären Gründen gezwungen, in der Nacht des 4. auf den 5. September 2015 einen Bustransfer über Österreich nach Deutschland von in Ungarn gestrandeten Flüchtlingen zu organisieren, anschließend auch die vom Dublin-Abkommen eigentlich vorgesehene Rücküberstellung von syrischen Staatsbürgern in das Land, in dem ein Schutzsuchender erstmals EU-Boden betritt, auszusetzen.

Weil der Strom Schutzsuchender nicht abnimmt, kommt es seitdem zur Schließung von Grenzen, zuerst auf der Balkan-Route, sodann auch in Nordeuropa. Somit drohen auch die Schengen-Vereinbarungen über die Reisefreiheit in Europa zu kollabieren. Der Versuch, eine Quotenregelung zur Aufnahme und Umverteilung von Flüchtlingen umzusetzen, aber scheiterte bislang am Widerstand vieler, vor allem ost- und mitteleuropäischer Staaten.

Hatte die Euro- und Schuldenkrise Nord und Süd gegeneinander positioniert, ist es jetzt eine Bruchlinie zwischen West- und Osteuropa, die zentrale Errungenschaften der europäischen Integration Makulatur werden lässt. Bricht Europa auseinander? Oder gibt es einen Weg aus den Krisen?

Drei Szenarien sind denkbar. Erstens die schnelle weitere Integration, die volle Ausbildung einer politischen Union. Das aber scheint unrealistisch, weil es die Aufgabe weiterer Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten bedeuten würde. Eine solche Perspektive einer „immer engeren Union“ ist mit dem ‚Europäisierungsdilemma‘ konfrontiert: Der Problemlösungsdruck verlangt gemeinsame europäische Antworten, erzeugt aber zunehmend stärker werdende Widerstände, nicht zuletzt durch eurokritische und rechtspopulistische Bewegungen. Schon wird „Brüssel“ mit „Moskau“ zu Zeiten des Warschauer Paktes verglichen, der EU Fremdbestimmung national souveräner Staaten vorgeworfen.

Ein zweites Szenario scheint zu verlocken, ist aber nicht zielführend. Eine strikte Renationalisierung, die Zurückverlagerung von Kompetenzen von der EU an die Nationalstaaten wird die großen Krisen nicht lösen, nur weiter verschärfen: der gemeinsame Raum von Demokratie, Rechtsstaat und Wohlstand löst sich auf. Die Behauptung nationalstaatlicher Souveränität gefährdet die europäische Friedensordnung. Bleibt somit alles beim Alten? Die EU hangelt sich von Krise zu Krise, der Ausnahmezustand wird zum Dauerzustand? Deutschland gibt die Marschrichtung vor, der Rest folgt? Ein solches, das dritte Szenario erweckt schon jetzt das politische Misstrauen der anderen Staaten, die Deutschland – wie in der Euro- und Griechenlandkrise – Hegemoniestreben oder – wie in der Flüchtlingskrise – „moralischen Imperialismus“ vorwerfen. Ein „deutsches Europa“ stößt auf Widerstände und ist auch nicht im eigenen, deutschen Interesse. Eine Führungsrolle, die Deutschland in und außerhalb Europas gleichwohl immer wieder zugeschrieben wird, wird nur innerhalb der Strukturen wechselseitiger Verflechtung und gemeinsamer Entscheidungen und nur dann akzeptiert werden, wenn sie im Respekt vor den kulturellen und sozialen Unterschieden in Europa wahrgenommen wird. Vorerst wird es darauf ankommen, die Risse im europäischen Haus nicht noch größer werden zu lassen und darauf zu bestehen, dass die Krisen nur gemeinsam bewältigt werden können. Dabei ist nüchterner Pragmatismus gefragt. Danach wird dann Europa noch einmal neu zu denken sein.

Unser Autor: Hans Vorländer, geboren 1954 in Wuppertal, lehrt Politikwissenschaft und ist Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung an der Technischen Universität Dresden.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die Sächsische Zeitung kontroverse Essays, Analysen und Interviews zu aktuellen Themen. Texte, die Denkanstöße geben, zur Diskussion anregen sollen.